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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo.
Streben nach vollendeter Modellirung nie genug thun konnte, hat bis-
weilen, und so auch hier, Farben gebraucht, die später in die Schat-
ten z. B. grünliche Töne brachten. Allein die hohe geistige Anmuth
in Kopf und Haltung, die Schönheit der Hand bezeichnen recht deut-
lich die Zeit, welche die Gabe der Charakteristik nunmehr in der
höchsten Richtung anwendet.

a

Ebenda: der Goldschmied. Ein unendliches Detail (die Partien
um den Mund!); die Augenlieder und das geistreich kränkliche Aus-
sehen verrathen den Feinarbeiter; ganz wunderbar durchdringt sich
damit der wesentlich lionardeske Charakter, den der Maler in dem
Kopfe fand oder hineinlegte.

b

In den Uffizien: der Kopf eines jungen Mannes, von vorn. Wie-
derum unendlich wahr und trotz der viel grössern Verschmelzung der
Töne wahrscheinlich echt. -- Ebenda, aus ungleich späterer Zeit, das
höchst grandiose, meisterlich ins Licht gestellte eigene Porträt
Lionardo's; weit der grösste Schatz der berühmten Sammlung von
Malerbildnissen.

c

In der Ambrosiana zu Mailand: das entweder unvollendete oder
verwaschene Porträt des Lodovico Moro und das Profilbild seiner
Gemahlin, letzteres nicht ganz freudig gemalt; ausserdem einige Pa-
stellköpfe, unter welchen das reizvolle Bildniss einer Dame mit nie-
dergeschlagenen Augen.

Die übrigen Porträts befinden sich im Ausland.

Nach diesen Werken, über welchen sein Ideal nur wie ein Duft
schwebt, mögen diejenigen kleinern Arbeiten folgen, in welchen sich
dasselbe rückhaltlos offenbart. Vorbereitet war es schon in den ju-
gendlichen Köpfen Verocchio's (S. 602); aber erst bei Lionardo er-
reicht es seinen vollen Zauber: der lächelnde Mund, das schmale
Kinn, die grossen Augen, bald strahlend von Fröhlichkeit, bald leis
umschleiert von einem sanften Schmerz. Conventionelle Mienen kom-
men im ganzen XV. Jahrh. vor; hier zuerst handelt es sich aber um
einen Ausdruck, welchen ein grosser Meister als sein Höchstes giebt.
Unläugbar einseitig und der Veräusserlichung unterworfen, aber durch-
aus zwingend.

Die Madonnen, heiligen Familien u. a. Compositionen, um welche
es sich handelt, sind zum Theil naiv bis ins Genrehafte. Allein es

Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo.
Streben nach vollendeter Modellirung nie genug thun konnte, hat bis-
weilen, und so auch hier, Farben gebraucht, die später in die Schat-
ten z. B. grünliche Töne brachten. Allein die hohe geistige Anmuth
in Kopf und Haltung, die Schönheit der Hand bezeichnen recht deut-
lich die Zeit, welche die Gabe der Charakteristik nunmehr in der
höchsten Richtung anwendet.

a

Ebenda: der Goldschmied. Ein unendliches Detail (die Partien
um den Mund!); die Augenlieder und das geistreich kränkliche Aus-
sehen verrathen den Feinarbeiter; ganz wunderbar durchdringt sich
damit der wesentlich lionardeske Charakter, den der Maler in dem
Kopfe fand oder hineinlegte.

b

In den Uffizien: der Kopf eines jungen Mannes, von vorn. Wie-
derum unendlich wahr und trotz der viel grössern Verschmelzung der
Töne wahrscheinlich echt. — Ebenda, aus ungleich späterer Zeit, das
höchst grandiose, meisterlich ins Licht gestellte eigene Porträt
Lionardo’s; weit der grösste Schatz der berühmten Sammlung von
Malerbildnissen.

c

In der Ambrosiana zu Mailand: das entweder unvollendete oder
verwaschene Porträt des Lodovico Moro und das Profilbild seiner
Gemahlin, letzteres nicht ganz freudig gemalt; ausserdem einige Pa-
stellköpfe, unter welchen das reizvolle Bildniss einer Dame mit nie-
dergeschlagenen Augen.

Die übrigen Porträts befinden sich im Ausland.

Nach diesen Werken, über welchen sein Ideal nur wie ein Duft
schwebt, mögen diejenigen kleinern Arbeiten folgen, in welchen sich
dasselbe rückhaltlos offenbart. Vorbereitet war es schon in den ju-
gendlichen Köpfen Verocchio’s (S. 602); aber erst bei Lionardo er-
reicht es seinen vollen Zauber: der lächelnde Mund, das schmale
Kinn, die grossen Augen, bald strahlend von Fröhlichkeit, bald leis
umschleiert von einem sanften Schmerz. Conventionelle Mienen kom-
men im ganzen XV. Jahrh. vor; hier zuerst handelt es sich aber um
einen Ausdruck, welchen ein grosser Meister als sein Höchstes giebt.
Unläugbar einseitig und der Veräusserlichung unterworfen, aber durch-
aus zwingend.

Die Madonnen, heiligen Familien u. a. Compositionen, um welche
es sich handelt, sind zum Theil naiv bis ins Genrehafte. Allein es

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[862/0884] Malerei des XVI. Jahrhunderts. Lionardo. Streben nach vollendeter Modellirung nie genug thun konnte, hat bis- weilen, und so auch hier, Farben gebraucht, die später in die Schat- ten z. B. grünliche Töne brachten. Allein die hohe geistige Anmuth in Kopf und Haltung, die Schönheit der Hand bezeichnen recht deut- lich die Zeit, welche die Gabe der Charakteristik nunmehr in der höchsten Richtung anwendet. Ebenda: der Goldschmied. Ein unendliches Detail (die Partien um den Mund!); die Augenlieder und das geistreich kränkliche Aus- sehen verrathen den Feinarbeiter; ganz wunderbar durchdringt sich damit der wesentlich lionardeske Charakter, den der Maler in dem Kopfe fand oder hineinlegte. In den Uffizien: der Kopf eines jungen Mannes, von vorn. Wie- derum unendlich wahr und trotz der viel grössern Verschmelzung der Töne wahrscheinlich echt. — Ebenda, aus ungleich späterer Zeit, das höchst grandiose, meisterlich ins Licht gestellte eigene Porträt Lionardo’s; weit der grösste Schatz der berühmten Sammlung von Malerbildnissen. In der Ambrosiana zu Mailand: das entweder unvollendete oder verwaschene Porträt des Lodovico Moro und das Profilbild seiner Gemahlin, letzteres nicht ganz freudig gemalt; ausserdem einige Pa- stellköpfe, unter welchen das reizvolle Bildniss einer Dame mit nie- dergeschlagenen Augen. Die übrigen Porträts befinden sich im Ausland. Nach diesen Werken, über welchen sein Ideal nur wie ein Duft schwebt, mögen diejenigen kleinern Arbeiten folgen, in welchen sich dasselbe rückhaltlos offenbart. Vorbereitet war es schon in den ju- gendlichen Köpfen Verocchio’s (S. 602); aber erst bei Lionardo er- reicht es seinen vollen Zauber: der lächelnde Mund, das schmale Kinn, die grossen Augen, bald strahlend von Fröhlichkeit, bald leis umschleiert von einem sanften Schmerz. Conventionelle Mienen kom- men im ganzen XV. Jahrh. vor; hier zuerst handelt es sich aber um einen Ausdruck, welchen ein grosser Meister als sein Höchstes giebt. Unläugbar einseitig und der Veräusserlichung unterworfen, aber durch- aus zwingend. Die Madonnen, heiligen Familien u. a. Compositionen, um welche es sich handelt, sind zum Theil naiv bis ins Genrehafte. Allein es

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 862. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/884>, abgerufen am 17.06.2024.