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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des XV. Jahrhunderts. Florentiner.
kleiner, nackter Flügelkinder (Putten) aus, welche als Gefährten des
Christuskindes, als Sänger und Musikanten und als stets dienliche
Füll- und Zierfiguren die Kunstwerke jener Zeit beleben.

Die höchste Freude der Kunst war es, wenn sie der Natur wie-
der eine sprechende Bewegung, einen lebensvollen Moment mehr, und
zwar auf schöne Weise abgewann; sie suchte gerade dasjenige, wel-
chem die Nordländer aus dem Wege gingen. Einstweilen erfährt man
noch wenig von anatomischer Erforschung der Menschengestalt; aber
ein rastlos beharrliches Anschauen des täglichen Verkehrs klärte die
Künstler auf über das Warum? jeder Bewegung und jedes Ausdrucks;
das Studium des Nackten und der Perspective, die man aus dem
Nichts schaffen musste, that das Übrige.

So erwuchs eine Malerei, welche sich nicht mehr auf Intentionen
und Andeutungen zu beschränken brauchte, sondern der Darstellung
jeder Thatsache, jedes sinnlichen oder geistigen Vorganges gewach-
sen war.


In Florenz knüpft sich die grosse Neuerung an den Namen des
Masaccio (1404--1443). Unter der Einwirkung des Ghiberti, Do-
natello und Brunellesco, welche in der Sculptur das neue Princip ver-
traten, führte er dasselbe in die Malerei ein, wo es seine wahren Siege
erkämpfen sollte. Eine Jugendarbeit, die er in Rom übernahm, die
aFresken in S. Clemente (Cap. vom Seiteneingang rechts; Passion, und
Legende der heil. Catharina), zeigen in ihrer starken Übermalung nur
Anklänge dessen, was Masaccio über die Nachfolger Giotto's empor-
hebt; in einigen der besser erhaltenen Köpfe regt sich wenigstens ein
persönlicheres Leben. -- Der ganze Meister offenbart sich erst im Car-
bmine zu Florenz (Cap. Brancacci, am Ende des rechten Quer-
schiffes), wo er die von Masolino da Panicale begonnene Freskenreihe
weiter zu führen hatte. Wie Masolino's Eva (im Sündenfall) eine der
ersten, ganz schönen nackten Frauengestalten der modernen Kunst ist,
so sind Masaccio's Täuflinge (in der Taufe Petri) die ersten völlig
belebten männlichen Acte; schon vollkommen ist die Linienführung
zweier nackten und bewegten Gestalten (in der Vertreibung aus dem
Paradiese) gehandhabt. Auch in den übrigen Bildern strömt eine bisher

Malerei des XV. Jahrhunderts. Florentiner.
kleiner, nackter Flügelkinder (Putten) aus, welche als Gefährten des
Christuskindes, als Sänger und Musikanten und als stets dienliche
Füll- und Zierfiguren die Kunstwerke jener Zeit beleben.

Die höchste Freude der Kunst war es, wenn sie der Natur wie-
der eine sprechende Bewegung, einen lebensvollen Moment mehr, und
zwar auf schöne Weise abgewann; sie suchte gerade dasjenige, wel-
chem die Nordländer aus dem Wege gingen. Einstweilen erfährt man
noch wenig von anatomischer Erforschung der Menschengestalt; aber
ein rastlos beharrliches Anschauen des täglichen Verkehrs klärte die
Künstler auf über das Warum? jeder Bewegung und jedes Ausdrucks;
das Studium des Nackten und der Perspective, die man aus dem
Nichts schaffen musste, that das Übrige.

So erwuchs eine Malerei, welche sich nicht mehr auf Intentionen
und Andeutungen zu beschränken brauchte, sondern der Darstellung
jeder Thatsache, jedes sinnlichen oder geistigen Vorganges gewach-
sen war.


In Florenz knüpft sich die grosse Neuerung an den Namen des
Masaccio (1404—1443). Unter der Einwirkung des Ghiberti, Do-
natello und Brunellesco, welche in der Sculptur das neue Princip ver-
traten, führte er dasselbe in die Malerei ein, wo es seine wahren Siege
erkämpfen sollte. Eine Jugendarbeit, die er in Rom übernahm, die
aFresken in S. Clemente (Cap. vom Seiteneingang rechts; Passion, und
Legende der heil. Catharina), zeigen in ihrer starken Übermalung nur
Anklänge dessen, was Masaccio über die Nachfolger Giotto’s empor-
hebt; in einigen der besser erhaltenen Köpfe regt sich wenigstens ein
persönlicheres Leben. — Der ganze Meister offenbart sich erst im Car-
bmine zu Florenz (Cap. Brancacci, am Ende des rechten Quer-
schiffes), wo er die von Masolino da Panicale begonnene Freskenreihe
weiter zu führen hatte. Wie Masolino’s Eva (im Sündenfall) eine der
ersten, ganz schönen nackten Frauengestalten der modernen Kunst ist,
so sind Masaccio’s Täuflinge (in der Taufe Petri) die ersten völlig
belebten männlichen Acte; schon vollkommen ist die Linienführung
zweier nackten und bewegten Gestalten (in der Vertreibung aus dem
Paradiese) gehandhabt. Auch in den übrigen Bildern strömt eine bisher

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[798/0820] Malerei des XV. Jahrhunderts. Florentiner. kleiner, nackter Flügelkinder (Putten) aus, welche als Gefährten des Christuskindes, als Sänger und Musikanten und als stets dienliche Füll- und Zierfiguren die Kunstwerke jener Zeit beleben. Die höchste Freude der Kunst war es, wenn sie der Natur wie- der eine sprechende Bewegung, einen lebensvollen Moment mehr, und zwar auf schöne Weise abgewann; sie suchte gerade dasjenige, wel- chem die Nordländer aus dem Wege gingen. Einstweilen erfährt man noch wenig von anatomischer Erforschung der Menschengestalt; aber ein rastlos beharrliches Anschauen des täglichen Verkehrs klärte die Künstler auf über das Warum? jeder Bewegung und jedes Ausdrucks; das Studium des Nackten und der Perspective, die man aus dem Nichts schaffen musste, that das Übrige. So erwuchs eine Malerei, welche sich nicht mehr auf Intentionen und Andeutungen zu beschränken brauchte, sondern der Darstellung jeder Thatsache, jedes sinnlichen oder geistigen Vorganges gewach- sen war. In Florenz knüpft sich die grosse Neuerung an den Namen des Masaccio (1404—1443). Unter der Einwirkung des Ghiberti, Do- natello und Brunellesco, welche in der Sculptur das neue Princip ver- traten, führte er dasselbe in die Malerei ein, wo es seine wahren Siege erkämpfen sollte. Eine Jugendarbeit, die er in Rom übernahm, die Fresken in S. Clemente (Cap. vom Seiteneingang rechts; Passion, und Legende der heil. Catharina), zeigen in ihrer starken Übermalung nur Anklänge dessen, was Masaccio über die Nachfolger Giotto’s empor- hebt; in einigen der besser erhaltenen Köpfe regt sich wenigstens ein persönlicheres Leben. — Der ganze Meister offenbart sich erst im Car- mine zu Florenz (Cap. Brancacci, am Ende des rechten Quer- schiffes), wo er die von Masolino da Panicale begonnene Freskenreihe weiter zu führen hatte. Wie Masolino’s Eva (im Sündenfall) eine der ersten, ganz schönen nackten Frauengestalten der modernen Kunst ist, so sind Masaccio’s Täuflinge (in der Taufe Petri) die ersten völlig belebten männlichen Acte; schon vollkommen ist die Linienführung zweier nackten und bewegten Gestalten (in der Vertreibung aus dem Paradiese) gehandhabt. Auch in den übrigen Bildern strömt eine bisher a b

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 798. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/820>, abgerufen am 10.06.2024.