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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Die neue Auffassung.
ein Hauptverdienst der Florentiner ist. Rom zehrte fast ganz von
auswärtigen Künstlern; Perugia empfing seine Inspiration zuerst von
Florenz und Siena und leistete auf seinem Höhepunkt gerade für das
Dramatisch-Historische wenig; Neapel kommt nicht in Betracht. --
Toscana allein bietet eine grosse, monumentale Geschichtsmalerei dar,
in gesunder, ununterbrochner Weiterbildung, mit fortlaufender Seiten-
wirkung auf das Tafelbild, welches sonst wohl vorzeitig in verfeinerter
Niedlichkeit untergesunken wäre.

Die Gegenstände waren, mit Ausnahme der hinzukommenden Pro-
fanmalerei, die alten: das ruhig symmetrische Gnadenbild, die Ge-
schichten der Bibel und die Legenden der Heiligen; endlich das häus-
liche Andachtsbild. Allein sie sind alle umgestaltet. Von den einzelnen
Personen behält Christus im Mannesalter am meisten von dem bis-
herigen Typus; der Gekreuzigte erhält eine bisweilen sehr edel durchge-
bildete Gestalt und einen Ausdruck, den z. B. die Schulen des XVII.
Jahrh. vergebens an Tiefe zu überbieten suchten. Die grösste Ver-
änderung geht mit der Madonna vor; wohl bleibt sie in einzelnen
feierlichen Darstellungen die Himmelskönigin, sonst aber wird sie zur
sorglichen oder stillfröhlichen Mutter, und vertauscht sogar die alt-
übliche Idealtracht mit Mieder und Häubchen des Italiens der Renais-
sance; das Bild der häuslichen Scene vollendet sich, indem der le-
bendig und selbst unruhig gewordene Christusknabe den längst er-
sehnten Gespielen erhält an dem kleinen Johannes. In dieser irdisch
umgedeuteten Existenz findet denn auch der Pflegevater Joseph erst
seine rechte Stelle; ein häuslicher und doch nicht kleinbürgerlicher
Ton und Klang beginnt all die früher so feierlichen Scenen zu durch-
dringen: die Verkündigung, die Visitation, die Anbetung der Hirten,
die Geburt der Maria, die des Johannes u. s. w. Gewiss wurde dem
Beschauer das Ereigniss jetzt viel mehr nahe gelegt und vergegen-
wärtigt; ob die Andacht dabei gewann oder verlor, ist eine andere
Frage. -- Auch der Himmel füllt sich mit sprechend individuellen Kö-
pfen und Gestalten an, zu beginnen vom Gottvater in pelzverbrämtem
Rocke; alle Seligen und Engel dienen jetzt nicht mehr unpersönlich
der grossen symmetrischen Glorie des Ganzen, sondern jede Figur ist
interessant für sich. Von den erwachsenen Engeln (die oft eine sehr
florentinische Tracht erhalten) scheiden sich nunmehr die Schaaren

Die neue Auffassung.
ein Hauptverdienst der Florentiner ist. Rom zehrte fast ganz von
auswärtigen Künstlern; Perugia empfing seine Inspiration zuerst von
Florenz und Siena und leistete auf seinem Höhepunkt gerade für das
Dramatisch-Historische wenig; Neapel kommt nicht in Betracht. —
Toscana allein bietet eine grosse, monumentale Geschichtsmalerei dar,
in gesunder, ununterbrochner Weiterbildung, mit fortlaufender Seiten-
wirkung auf das Tafelbild, welches sonst wohl vorzeitig in verfeinerter
Niedlichkeit untergesunken wäre.

Die Gegenstände waren, mit Ausnahme der hinzukommenden Pro-
fanmalerei, die alten: das ruhig symmetrische Gnadenbild, die Ge-
schichten der Bibel und die Legenden der Heiligen; endlich das häus-
liche Andachtsbild. Allein sie sind alle umgestaltet. Von den einzelnen
Personen behält Christus im Mannesalter am meisten von dem bis-
herigen Typus; der Gekreuzigte erhält eine bisweilen sehr edel durchge-
bildete Gestalt und einen Ausdruck, den z. B. die Schulen des XVII.
Jahrh. vergebens an Tiefe zu überbieten suchten. Die grösste Ver-
änderung geht mit der Madonna vor; wohl bleibt sie in einzelnen
feierlichen Darstellungen die Himmelskönigin, sonst aber wird sie zur
sorglichen oder stillfröhlichen Mutter, und vertauscht sogar die alt-
übliche Idealtracht mit Mieder und Häubchen des Italiens der Renais-
sance; das Bild der häuslichen Scene vollendet sich, indem der le-
bendig und selbst unruhig gewordene Christusknabe den längst er-
sehnten Gespielen erhält an dem kleinen Johannes. In dieser irdisch
umgedeuteten Existenz findet denn auch der Pflegevater Joseph erst
seine rechte Stelle; ein häuslicher und doch nicht kleinbürgerlicher
Ton und Klang beginnt all die früher so feierlichen Scenen zu durch-
dringen: die Verkündigung, die Visitation, die Anbetung der Hirten,
die Geburt der Maria, die des Johannes u. s. w. Gewiss wurde dem
Beschauer das Ereigniss jetzt viel mehr nahe gelegt und vergegen-
wärtigt; ob die Andacht dabei gewann oder verlor, ist eine andere
Frage. — Auch der Himmel füllt sich mit sprechend individuellen Kö-
pfen und Gestalten an, zu beginnen vom Gottvater in pelzverbrämtem
Rocke; alle Seligen und Engel dienen jetzt nicht mehr unpersönlich
der grossen symmetrischen Glorie des Ganzen, sondern jede Figur ist
interessant für sich. Von den erwachsenen Engeln (die oft eine sehr
florentinische Tracht erhalten) scheiden sich nunmehr die Schaaren

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[797/0819] Die neue Auffassung. ein Hauptverdienst der Florentiner ist. Rom zehrte fast ganz von auswärtigen Künstlern; Perugia empfing seine Inspiration zuerst von Florenz und Siena und leistete auf seinem Höhepunkt gerade für das Dramatisch-Historische wenig; Neapel kommt nicht in Betracht. — Toscana allein bietet eine grosse, monumentale Geschichtsmalerei dar, in gesunder, ununterbrochner Weiterbildung, mit fortlaufender Seiten- wirkung auf das Tafelbild, welches sonst wohl vorzeitig in verfeinerter Niedlichkeit untergesunken wäre. Die Gegenstände waren, mit Ausnahme der hinzukommenden Pro- fanmalerei, die alten: das ruhig symmetrische Gnadenbild, die Ge- schichten der Bibel und die Legenden der Heiligen; endlich das häus- liche Andachtsbild. Allein sie sind alle umgestaltet. Von den einzelnen Personen behält Christus im Mannesalter am meisten von dem bis- herigen Typus; der Gekreuzigte erhält eine bisweilen sehr edel durchge- bildete Gestalt und einen Ausdruck, den z. B. die Schulen des XVII. Jahrh. vergebens an Tiefe zu überbieten suchten. Die grösste Ver- änderung geht mit der Madonna vor; wohl bleibt sie in einzelnen feierlichen Darstellungen die Himmelskönigin, sonst aber wird sie zur sorglichen oder stillfröhlichen Mutter, und vertauscht sogar die alt- übliche Idealtracht mit Mieder und Häubchen des Italiens der Renais- sance; das Bild der häuslichen Scene vollendet sich, indem der le- bendig und selbst unruhig gewordene Christusknabe den längst er- sehnten Gespielen erhält an dem kleinen Johannes. In dieser irdisch umgedeuteten Existenz findet denn auch der Pflegevater Joseph erst seine rechte Stelle; ein häuslicher und doch nicht kleinbürgerlicher Ton und Klang beginnt all die früher so feierlichen Scenen zu durch- dringen: die Verkündigung, die Visitation, die Anbetung der Hirten, die Geburt der Maria, die des Johannes u. s. w. Gewiss wurde dem Beschauer das Ereigniss jetzt viel mehr nahe gelegt und vergegen- wärtigt; ob die Andacht dabei gewann oder verlor, ist eine andere Frage. — Auch der Himmel füllt sich mit sprechend individuellen Kö- pfen und Gestalten an, zu beginnen vom Gottvater in pelzverbrämtem Rocke; alle Seligen und Engel dienen jetzt nicht mehr unpersönlich der grossen symmetrischen Glorie des Ganzen, sondern jede Figur ist interessant für sich. Von den erwachsenen Engeln (die oft eine sehr florentinische Tracht erhalten) scheiden sich nunmehr die Schaaren

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 797. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/819>, abgerufen am 10.06.2024.