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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Fresken in S. Marco, in Orvieto, im Vatican.
schrift: anchora imparo, noch immerfort lerne ich. Und diess war
keine Phrase. Die unverwüstliche Lebenskraft dieser Männer war
wirklich mit einer eben so dauernden Aneignungsgabe verbunden.

Diess war auch bei Fiesole einigermassen der Fall. Dasjenige
worin er so vorzüglich gross ist, die friedensreiche, tiefe Seligkeit
heiliger Gestalten, findet sich eben in seinen spätesten Arbeiten
mit einer unbeschreiblichen Kraft und Fülle ausgedrückt, zum grossen
Unterschied von Perugino, welcher gerade hierin mit den Jahren lahm
und äusserlich wurde. Man betrachte Fiesole's Pyramidalgruppe dera
Propheten am Gewölbe der Madonnenkapelle des Domes von Or-
vieto
und frage sich, ob irgend ein Kunstwerk der Erde, Rafael nicht
ausgenommen, die stille selige Anbetung so wiedergebe? (Den Welt-
richter, an der Hinterwand, hat er freilich von Orcagna entlehnt, ohne
diesen zu erreichen.) Noch später, nach seinem sechszigsten Jahre
(1447), malte er im Vatican die Capelle Nicolaus V, -- und dieb
vier Evangelisten am Gewölbe und einer oder der andere von den
Kirchenlehrern, wie z. B. S. Bonaventura erscheinen jenen himmli-
schen Gestalten noch ganz ebenbürtig. Aber nicht bloss was ihm
eigen war, bildete er mit gesteigerter Kraft weiter, sondern auch ge-
gen die Fortschritte anderer Zeitgenossen schloss er sich durchaus
nicht ab, wie man wohl glauben könnte. Die Geschichten der Hei-
ligen Stephanus und Laurentius in der letztgenannten Capelle bewei-
sen, dass der alternde Mann noch mit aller Anstrengung so viel von
dem, was inzwischen Masaccio u. A. gewonnen, einzuholen suchte als
seiner Richtung gemäss war. Die anmuthige Erzählungsweise dieser
Fresken zeigt Züge des wirklichen Lebens und ist mit einer äussern
Wahrheit der Farbe verbunden wie sich diess von keinem frühern
Werke des Meisters so behaupten lässt. Die heftigen Bewegungen,
ja schon die starken Schritte pflegen ihm noch immer zu misslingen,
dafür wird man aber auf das Beste entschädigt z. B. durch jene
junge Frau, welche der Predigt des heil. Stephanus mit ungestörter
Andacht zuhört und ihr unruhiges Kind nur mit der Hand fasst um
es stille zu machen. Man durchgehe dieses Werk Scene um Scene,
und man wird einen Schatz von schönen, geistvollen Bezügen dieser
Art darin finden. Abgesehen davon ist es als fast rein erhaltenes
Ganzes aus der Zeit der grossen Vorblüthe unschätzbar.

Fresken in S. Marco, in Orvieto, im Vatican.
schrift: anchora imparo, noch immerfort lerne ich. Und diess war
keine Phrase. Die unverwüstliche Lebenskraft dieser Männer war
wirklich mit einer eben so dauernden Aneignungsgabe verbunden.

Diess war auch bei Fiesole einigermassen der Fall. Dasjenige
worin er so vorzüglich gross ist, die friedensreiche, tiefe Seligkeit
heiliger Gestalten, findet sich eben in seinen spätesten Arbeiten
mit einer unbeschreiblichen Kraft und Fülle ausgedrückt, zum grossen
Unterschied von Perugino, welcher gerade hierin mit den Jahren lahm
und äusserlich wurde. Man betrachte Fiesole’s Pyramidalgruppe dera
Propheten am Gewölbe der Madonnenkapelle des Domes von Or-
vieto
und frage sich, ob irgend ein Kunstwerk der Erde, Rafael nicht
ausgenommen, die stille selige Anbetung so wiedergebe? (Den Welt-
richter, an der Hinterwand, hat er freilich von Orcagna entlehnt, ohne
diesen zu erreichen.) Noch später, nach seinem sechszigsten Jahre
(1447), malte er im Vatican die Capelle Nicolaus V, — und dieb
vier Evangelisten am Gewölbe und einer oder der andere von den
Kirchenlehrern, wie z. B. S. Bonaventura erscheinen jenen himmli-
schen Gestalten noch ganz ebenbürtig. Aber nicht bloss was ihm
eigen war, bildete er mit gesteigerter Kraft weiter, sondern auch ge-
gen die Fortschritte anderer Zeitgenossen schloss er sich durchaus
nicht ab, wie man wohl glauben könnte. Die Geschichten der Hei-
ligen Stephanus und Laurentius in der letztgenannten Capelle bewei-
sen, dass der alternde Mann noch mit aller Anstrengung so viel von
dem, was inzwischen Masaccio u. A. gewonnen, einzuholen suchte als
seiner Richtung gemäss war. Die anmuthige Erzählungsweise dieser
Fresken zeigt Züge des wirklichen Lebens und ist mit einer äussern
Wahrheit der Farbe verbunden wie sich diess von keinem frühern
Werke des Meisters so behaupten lässt. Die heftigen Bewegungen,
ja schon die starken Schritte pflegen ihm noch immer zu misslingen,
dafür wird man aber auf das Beste entschädigt z. B. durch jene
junge Frau, welche der Predigt des heil. Stephanus mit ungestörter
Andacht zuhört und ihr unruhiges Kind nur mit der Hand fasst um
es stille zu machen. Man durchgehe dieses Werk Scene um Scene,
und man wird einen Schatz von schönen, geistvollen Bezügen dieser
Art darin finden. Abgesehen davon ist es als fast rein erhaltenes
Ganzes aus der Zeit der grossen Vorblüthe unschätzbar.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 791. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/813>, abgerufen am 10.06.2024.