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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
aden Allegorien einzeln bei, wovon die genannte Cap. d. Spagnuoli das
vollständigste Beispiel liefert. (Auch Dante macht von dieser Reprä-
sentation bekanntlich den stärksten Gebrauch.) Solche Figuren, na-
mentlich wenn sie nicht besser stylisirt sind als bei Taddeo di Bartolo
b(Vorraum der Cap. des Pal. pubblico in Siena), bleiben doch blosse
Curiosität; sie geben den Massstab des naiven historischen Wissens
jener Zeit, die nach Valerius Maximus und andern Quellen dieser Art
neue Ideale proclamirt.

Ungleich wichtiger und selbständiger als dieses buchgeborene alle-
gorische Element ist in Giotto's Schule das symbolische. Es giebt
hohe, gewaltige Gedanken, die sich durch keinen bloss historischen
Vorgang versinnlichen lassen und doch gerade von der Kunst ihre
höchste Belebung verlangen. Das betreffende Kunstwerk wird um so
ergreifender sein, je weniger Allegorie, je mehr lebendiges, deutliches
Geschehen es enthält. Die künstlerische Symbolik spricht theils Grup-
pen- und Kategorienweise, theils durch allbekannte historische Cha-
raktere. Das Grösste was von dieser Art vorhanden ist, trägt am
Wenigsten den Stempel der blossen subjectiven Erfindung; es sind
vielmehr grosse Zeitgedanken, die sich fast mit Gewalt der Kunst
aufdrängen.

Zu diesen Gegenständen gehört schon das ganze Jenseits, obwohl
nicht unbeschränkt. Soweit das Evangelium und die Apokalypse in
ihren Weissagungen gehen, hat die Kunst noch einen Boden, der mit
dem Historischen von gleichem Range ist. Erst mit den einzelnen
Motiven, die hierüber hinausgehen, beginnt die freie Symbolik. Das
Weltgericht in seinen drei Abtheilungen: Gericht, Paradies und
Hölle, hat in dieser Schule drei mehr oder weniger vollständige Dar-
cstellungen erhalten: die (sehr zerstörte) Giotto's 1) an der Vorderwand
dder Arena zu Padua, und die der beiden Orcagna in S. Maria novella
e(Cap. Strozzi) und im Camposanto (der unterste Theil von dem schlech-

1) Merkwürdiger Weise ist Giotto in der Gruppirung freier als Orcagna; er
giebt noch bewegte Schaaren, die ungleiche Luftentfernungen zwischen sich
haben. Christus und die Apostel sind noch ohne den momentanen Ausdruck,
den ihnen Orcagna verlieh. Nach der zierlich scharfen Behandlung zu urthei-
len wäre das Weltgericht der am Frühsten gemalte Bestandtheil der Fresken
der Arena.

Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
aden Allegorien einzeln bei, wovon die genannte Cap. d. Spagnuoli das
vollständigste Beispiel liefert. (Auch Dante macht von dieser Reprä-
sentation bekanntlich den stärksten Gebrauch.) Solche Figuren, na-
mentlich wenn sie nicht besser stylisirt sind als bei Taddeo di Bartolo
b(Vorraum der Cap. des Pal. pubblico in Siena), bleiben doch blosse
Curiosität; sie geben den Massstab des naiven historischen Wissens
jener Zeit, die nach Valerius Maximus und andern Quellen dieser Art
neue Ideale proclamirt.

Ungleich wichtiger und selbständiger als dieses buchgeborene alle-
gorische Element ist in Giotto’s Schule das symbolische. Es giebt
hohe, gewaltige Gedanken, die sich durch keinen bloss historischen
Vorgang versinnlichen lassen und doch gerade von der Kunst ihre
höchste Belebung verlangen. Das betreffende Kunstwerk wird um so
ergreifender sein, je weniger Allegorie, je mehr lebendiges, deutliches
Geschehen es enthält. Die künstlerische Symbolik spricht theils Grup-
pen- und Kategorienweise, theils durch allbekannte historische Cha-
raktere. Das Grösste was von dieser Art vorhanden ist, trägt am
Wenigsten den Stempel der blossen subjectiven Erfindung; es sind
vielmehr grosse Zeitgedanken, die sich fast mit Gewalt der Kunst
aufdrängen.

Zu diesen Gegenständen gehört schon das ganze Jenseits, obwohl
nicht unbeschränkt. Soweit das Evangelium und die Apokalypse in
ihren Weissagungen gehen, hat die Kunst noch einen Boden, der mit
dem Historischen von gleichem Range ist. Erst mit den einzelnen
Motiven, die hierüber hinausgehen, beginnt die freie Symbolik. Das
Weltgericht in seinen drei Abtheilungen: Gericht, Paradies und
Hölle, hat in dieser Schule drei mehr oder weniger vollständige Dar-
cstellungen erhalten: die (sehr zerstörte) Giotto’s 1) an der Vorderwand
dder Arena zu Padua, und die der beiden Orcagna in S. Maria novella
e(Cap. Strozzi) und im Camposanto (der unterste Theil von dem schlech-

1) Merkwürdiger Weise ist Giotto in der Gruppirung freier als Orcagna; er
giebt noch bewegte Schaaren, die ungleiche Luftentfernungen zwischen sich
haben. Christus und die Apostel sind noch ohne den momentanen Ausdruck,
den ihnen Orcagna verlieh. Nach der zierlich scharfen Behandlung zu urthei-
len wäre das Weltgericht der am Frühsten gemalte Bestandtheil der Fresken
der Arena.
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[770/0792] Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule. den Allegorien einzeln bei, wovon die genannte Cap. d. Spagnuoli das vollständigste Beispiel liefert. (Auch Dante macht von dieser Reprä- sentation bekanntlich den stärksten Gebrauch.) Solche Figuren, na- mentlich wenn sie nicht besser stylisirt sind als bei Taddeo di Bartolo (Vorraum der Cap. des Pal. pubblico in Siena), bleiben doch blosse Curiosität; sie geben den Massstab des naiven historischen Wissens jener Zeit, die nach Valerius Maximus und andern Quellen dieser Art neue Ideale proclamirt. a b Ungleich wichtiger und selbständiger als dieses buchgeborene alle- gorische Element ist in Giotto’s Schule das symbolische. Es giebt hohe, gewaltige Gedanken, die sich durch keinen bloss historischen Vorgang versinnlichen lassen und doch gerade von der Kunst ihre höchste Belebung verlangen. Das betreffende Kunstwerk wird um so ergreifender sein, je weniger Allegorie, je mehr lebendiges, deutliches Geschehen es enthält. Die künstlerische Symbolik spricht theils Grup- pen- und Kategorienweise, theils durch allbekannte historische Cha- raktere. Das Grösste was von dieser Art vorhanden ist, trägt am Wenigsten den Stempel der blossen subjectiven Erfindung; es sind vielmehr grosse Zeitgedanken, die sich fast mit Gewalt der Kunst aufdrängen. Zu diesen Gegenständen gehört schon das ganze Jenseits, obwohl nicht unbeschränkt. Soweit das Evangelium und die Apokalypse in ihren Weissagungen gehen, hat die Kunst noch einen Boden, der mit dem Historischen von gleichem Range ist. Erst mit den einzelnen Motiven, die hierüber hinausgehen, beginnt die freie Symbolik. Das Weltgericht in seinen drei Abtheilungen: Gericht, Paradies und Hölle, hat in dieser Schule drei mehr oder weniger vollständige Dar- stellungen erhalten: die (sehr zerstörte) Giotto’s 1) an der Vorderwand der Arena zu Padua, und die der beiden Orcagna in S. Maria novella (Cap. Strozzi) und im Camposanto (der unterste Theil von dem schlech- c d e 1) Merkwürdiger Weise ist Giotto in der Gruppirung freier als Orcagna; er giebt noch bewegte Schaaren, die ungleiche Luftentfernungen zwischen sich haben. Christus und die Apostel sind noch ohne den momentanen Ausdruck, den ihnen Orcagna verlieh. Nach der zierlich scharfen Behandlung zu urthei- len wäre das Weltgericht der am Frühsten gemalte Bestandtheil der Fresken der Arena.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 770. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/792>, abgerufen am 17.06.2024.