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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
bekenne, dass mich von allen giottesken Allegorien eine einzige wahr-
ahaft ergreift, die Gestalt des Todes im Trionfo della morte Orcagna's;
sie ist eben keine blosse Allegorie, sondern eine dämonische Macht.
bDie Tugenden und Laster, wie sie z. B. Giotto in der Arena (untere
Felder) angebracht hat, sind für uns doch nur culturgeschichtlich in-
teressante Versuche, das Allgemeine zu veranschaulichen; in unserer
Empfindungsweise finden sie keine Stelle. Wer in Italien allmälig
z. B. einige hundert Darstellungen der vier Cardinaltugenden aus allen
Epochen der christlichen Kunst durchgesehen hat, wird sich vielleicht
mit mir darüber wundern, dass so Weniges davon im Gedächtniss
haften bleibt, während historische Gestalten sich demselben fest ein-
prägen. Der Grund ist wohl kein anderer, als dass jene nicht durch
unsere Seele, sondern nur an unseren Augen vorübergegangen sind.
Die drei christlichen Tugenden, Glaube, Liebe, Hoffnung, prägen sich
schon viel fester ein, weil sie nicht wesentlich durch äussere Attri-
bute, sondern durch gesteigerten Seelenausdruck charakterisirt zu wer-
den pflegen und uns daher zum Nachempfinden auffordern. Die Künste
cund Wissenschaften, in der Cap. d. Spagnuoli bei S. Maria novella in
grosser vollständiger Reihe vorgetragen und von ihren Repräsentanten
begleitet, würden uns ohne die sienesisch süssen Köpfe gleichgültig
dlassen; Giotto in seinen Reliefs am Campanile, welche ein Jahrzehnd
neuer sein können als diese Gemälde, ersetzte nicht umsonst die alle-
gorische Figur durch das Bild der entsprechenden Thätigkeit. -- Und
woher stammte im Grunde die Anregung zu dieser durch das ganze
(auch byzantinische) Mittelalter gehenden Lust am Allegorisiren? Sie
war ursprünglich das Residuum der antiken Mythologie, welche mit
dem Christenthum ihre wahre Bedeutung eingebüsst hatte. Ihr Ahn
heisst Marcianus Capella und lebte im V. Jahrhundert. Die Kunst
wird die Allegorie nie ganz entbehren können und konnte es schon
im Alterthum nicht, allein sie wird in ihren Blüthezeiten einen nur
mässigen Gebrauch davon machen und keinen geheimthuenden Haupt-
accent darauf legen. (Vgl. S. 702 ff.)

Hauptsächlich aber wird sie derartige Gestalten abgesondert dar-
stellen und nicht in historische Scenen hineinversetzen. (Vgl. Rafael:
eDecke der Camera della Segnatura, und Saal Constantins.) Giotto
war kühner: er liess sich, ohne Zweifel durch Dante, verführen, in

Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
bekenne, dass mich von allen giottesken Allegorien eine einzige wahr-
ahaft ergreift, die Gestalt des Todes im Trionfo della morte Orcagna’s;
sie ist eben keine blosse Allegorie, sondern eine dämonische Macht.
bDie Tugenden und Laster, wie sie z. B. Giotto in der Arena (untere
Felder) angebracht hat, sind für uns doch nur culturgeschichtlich in-
teressante Versuche, das Allgemeine zu veranschaulichen; in unserer
Empfindungsweise finden sie keine Stelle. Wer in Italien allmälig
z. B. einige hundert Darstellungen der vier Cardinaltugenden aus allen
Epochen der christlichen Kunst durchgesehen hat, wird sich vielleicht
mit mir darüber wundern, dass so Weniges davon im Gedächtniss
haften bleibt, während historische Gestalten sich demselben fest ein-
prägen. Der Grund ist wohl kein anderer, als dass jene nicht durch
unsere Seele, sondern nur an unseren Augen vorübergegangen sind.
Die drei christlichen Tugenden, Glaube, Liebe, Hoffnung, prägen sich
schon viel fester ein, weil sie nicht wesentlich durch äussere Attri-
bute, sondern durch gesteigerten Seelenausdruck charakterisirt zu wer-
den pflegen und uns daher zum Nachempfinden auffordern. Die Künste
cund Wissenschaften, in der Cap. d. Spagnuoli bei S. Maria novella in
grosser vollständiger Reihe vorgetragen und von ihren Repräsentanten
begleitet, würden uns ohne die sienesisch süssen Köpfe gleichgültig
dlassen; Giotto in seinen Reliefs am Campanile, welche ein Jahrzehnd
neuer sein können als diese Gemälde, ersetzte nicht umsonst die alle-
gorische Figur durch das Bild der entsprechenden Thätigkeit. — Und
woher stammte im Grunde die Anregung zu dieser durch das ganze
(auch byzantinische) Mittelalter gehenden Lust am Allegorisiren? Sie
war ursprünglich das Residuum der antiken Mythologie, welche mit
dem Christenthum ihre wahre Bedeutung eingebüsst hatte. Ihr Ahn
heisst Marcianus Capella und lebte im V. Jahrhundert. Die Kunst
wird die Allegorie nie ganz entbehren können und konnte es schon
im Alterthum nicht, allein sie wird in ihren Blüthezeiten einen nur
mässigen Gebrauch davon machen und keinen geheimthuenden Haupt-
accent darauf legen. (Vgl. S. 702 ff.)

Hauptsächlich aber wird sie derartige Gestalten abgesondert dar-
stellen und nicht in historische Scenen hineinversetzen. (Vgl. Rafael:
eDecke der Camera della Segnatura, und Saal Constantins.) Giotto
war kühner: er liess sich, ohne Zweifel durch Dante, verführen, in

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[768/0790] Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule. bekenne, dass mich von allen giottesken Allegorien eine einzige wahr- haft ergreift, die Gestalt des Todes im Trionfo della morte Orcagna’s; sie ist eben keine blosse Allegorie, sondern eine dämonische Macht. Die Tugenden und Laster, wie sie z. B. Giotto in der Arena (untere Felder) angebracht hat, sind für uns doch nur culturgeschichtlich in- teressante Versuche, das Allgemeine zu veranschaulichen; in unserer Empfindungsweise finden sie keine Stelle. Wer in Italien allmälig z. B. einige hundert Darstellungen der vier Cardinaltugenden aus allen Epochen der christlichen Kunst durchgesehen hat, wird sich vielleicht mit mir darüber wundern, dass so Weniges davon im Gedächtniss haften bleibt, während historische Gestalten sich demselben fest ein- prägen. Der Grund ist wohl kein anderer, als dass jene nicht durch unsere Seele, sondern nur an unseren Augen vorübergegangen sind. Die drei christlichen Tugenden, Glaube, Liebe, Hoffnung, prägen sich schon viel fester ein, weil sie nicht wesentlich durch äussere Attri- bute, sondern durch gesteigerten Seelenausdruck charakterisirt zu wer- den pflegen und uns daher zum Nachempfinden auffordern. Die Künste und Wissenschaften, in der Cap. d. Spagnuoli bei S. Maria novella in grosser vollständiger Reihe vorgetragen und von ihren Repräsentanten begleitet, würden uns ohne die sienesisch süssen Köpfe gleichgültig lassen; Giotto in seinen Reliefs am Campanile, welche ein Jahrzehnd neuer sein können als diese Gemälde, ersetzte nicht umsonst die alle- gorische Figur durch das Bild der entsprechenden Thätigkeit. — Und woher stammte im Grunde die Anregung zu dieser durch das ganze (auch byzantinische) Mittelalter gehenden Lust am Allegorisiren? Sie war ursprünglich das Residuum der antiken Mythologie, welche mit dem Christenthum ihre wahre Bedeutung eingebüsst hatte. Ihr Ahn heisst Marcianus Capella und lebte im V. Jahrhundert. Die Kunst wird die Allegorie nie ganz entbehren können und konnte es schon im Alterthum nicht, allein sie wird in ihren Blüthezeiten einen nur mässigen Gebrauch davon machen und keinen geheimthuenden Haupt- accent darauf legen. (Vgl. S. 702 ff.) a b c d Hauptsächlich aber wird sie derartige Gestalten abgesondert dar- stellen und nicht in historische Scenen hineinversetzen. (Vgl. Rafael: Decke der Camera della Segnatura, und Saal Constantins.) Giotto war kühner: er liess sich, ohne Zweifel durch Dante, verführen, in e

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 768. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/790>, abgerufen am 17.06.2024.