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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Das Übersinnliche. Glorien. Symbolik.
Kein Effect des Lichtes und des Raumes könnte den echten, gross-
artigen Charakter dieser Theophanie irgend erhöhen.

Oder (ebenda) Mariä Himmelfahrt, von Symone: drei Engel aufa
jeder Seite, und zwei stärkere, männliche Engel unten tragen und
halten den Rand der Mandorla, in welcher die Jungfrau ihrem Sohn
entgegenschwebt. Glaubt man ihr nicht viel eher, dass sie wirklich
schwebe und ein überirdisches Dasein habe als jenen zahlreichen Ma-
donnen der letzten Jahrhunderte auf den mit zerstreuten Engeln be-
säeten Wolkenhaufen, mit Lichteffect und Untensicht? -- Das Schweben
wird aber überdiess in der Schule Giotto's nicht selten so anmuthig
und feierlich dargestellt, dass man die vollendete Kunstepoche vor
sich zu haben glaubt. Es sind in Orcagna's Weltgericht zwei Engel,b
die bis auf Rafael schwerlich mehr ihres Gleichen haben.

Ausser den biblischen und legendarischen Stoffen erging sich aber
die Schule noch in freien, grossen symbolisch-allegorischen
Bildern und Bilderkreisen. Sie hing dabei, wie oben bei Anlass der
Sculptur (S. 572) angedeutet wurde, von einer gelehrt literarischen
und poetischen Bildung ab, welche der stärkere Theil und durch einen
Genius wie Dante repräsentirt war. Schon bei dem grossen Dichter
aber darf man sich wohl fragen, ob er durch seine Symbolik oder
trotz derselben gross ist. Dieselbe war nicht durch und mit Dichtung
und Kunst entstanden wie im Alterthum, sondern Dichtung und Kunst
mussten sich ihr bequemen. Bei Dante freilich liegt Alles untrennbar
durch und in einander; er ist ebensosehr Gelehrter und Theolog als
Dichter. Der Künstler dagegen war hier auf etwas ausser seiner
Sphäre liegendes angewiesen, er musste dienen, und that es mit hei-
ligem Ernst. Wir aber sind nicht verpflichtet, die Empfindungsweise
einer zwar strebenden, aber doch nicht harmonischen Zeit und noch
viel weniger ihre zu einer wunderlichen Encyclopädie geordneten
Bildungselemente zur Norm für uns selber zu machen; vielmehr muss
hier neben dem Ewigen, das jene Kunst schuf und dem wir ganz
folgen können, auch das Vergängliche und Befangene anerkannt werden.

Die Allegorie ist zunächst die Darstellung eines abstracten
Begriffes in menschlicher Gestalt. Um kenntlich zu sein, muss sie in
Charakter und Attributen diesem Begriff möglichst zu entsprechen
suchen; nicht immer kann man durch eine Beischrift nachhelfen. Ich

Das Übersinnliche. Glorien. Symbolik.
Kein Effect des Lichtes und des Raumes könnte den echten, gross-
artigen Charakter dieser Theophanie irgend erhöhen.

Oder (ebenda) Mariä Himmelfahrt, von Symone: drei Engel aufa
jeder Seite, und zwei stärkere, männliche Engel unten tragen und
halten den Rand der Mandorla, in welcher die Jungfrau ihrem Sohn
entgegenschwebt. Glaubt man ihr nicht viel eher, dass sie wirklich
schwebe und ein überirdisches Dasein habe als jenen zahlreichen Ma-
donnen der letzten Jahrhunderte auf den mit zerstreuten Engeln be-
säeten Wolkenhaufen, mit Lichteffect und Untensicht? — Das Schweben
wird aber überdiess in der Schule Giotto’s nicht selten so anmuthig
und feierlich dargestellt, dass man die vollendete Kunstepoche vor
sich zu haben glaubt. Es sind in Orcagna’s Weltgericht zwei Engel,b
die bis auf Rafael schwerlich mehr ihres Gleichen haben.

Ausser den biblischen und legendarischen Stoffen erging sich aber
die Schule noch in freien, grossen symbolisch-allegorischen
Bildern und Bilderkreisen. Sie hing dabei, wie oben bei Anlass der
Sculptur (S. 572) angedeutet wurde, von einer gelehrt literarischen
und poetischen Bildung ab, welche der stärkere Theil und durch einen
Genius wie Dante repräsentirt war. Schon bei dem grossen Dichter
aber darf man sich wohl fragen, ob er durch seine Symbolik oder
trotz derselben gross ist. Dieselbe war nicht durch und mit Dichtung
und Kunst entstanden wie im Alterthum, sondern Dichtung und Kunst
mussten sich ihr bequemen. Bei Dante freilich liegt Alles untrennbar
durch und in einander; er ist ebensosehr Gelehrter und Theolog als
Dichter. Der Künstler dagegen war hier auf etwas ausser seiner
Sphäre liegendes angewiesen, er musste dienen, und that es mit hei-
ligem Ernst. Wir aber sind nicht verpflichtet, die Empfindungsweise
einer zwar strebenden, aber doch nicht harmonischen Zeit und noch
viel weniger ihre zu einer wunderlichen Encyclopädie geordneten
Bildungselemente zur Norm für uns selber zu machen; vielmehr muss
hier neben dem Ewigen, das jene Kunst schuf und dem wir ganz
folgen können, auch das Vergängliche und Befangene anerkannt werden.

Die Allegorie ist zunächst die Darstellung eines abstracten
Begriffes in menschlicher Gestalt. Um kenntlich zu sein, muss sie in
Charakter und Attributen diesem Begriff möglichst zu entsprechen
suchen; nicht immer kann man durch eine Beischrift nachhelfen. Ich

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[767/0789] Das Übersinnliche. Glorien. Symbolik. Kein Effect des Lichtes und des Raumes könnte den echten, gross- artigen Charakter dieser Theophanie irgend erhöhen. Oder (ebenda) Mariä Himmelfahrt, von Symone: drei Engel auf jeder Seite, und zwei stärkere, männliche Engel unten tragen und halten den Rand der Mandorla, in welcher die Jungfrau ihrem Sohn entgegenschwebt. Glaubt man ihr nicht viel eher, dass sie wirklich schwebe und ein überirdisches Dasein habe als jenen zahlreichen Ma- donnen der letzten Jahrhunderte auf den mit zerstreuten Engeln be- säeten Wolkenhaufen, mit Lichteffect und Untensicht? — Das Schweben wird aber überdiess in der Schule Giotto’s nicht selten so anmuthig und feierlich dargestellt, dass man die vollendete Kunstepoche vor sich zu haben glaubt. Es sind in Orcagna’s Weltgericht zwei Engel, die bis auf Rafael schwerlich mehr ihres Gleichen haben. a b Ausser den biblischen und legendarischen Stoffen erging sich aber die Schule noch in freien, grossen symbolisch-allegorischen Bildern und Bilderkreisen. Sie hing dabei, wie oben bei Anlass der Sculptur (S. 572) angedeutet wurde, von einer gelehrt literarischen und poetischen Bildung ab, welche der stärkere Theil und durch einen Genius wie Dante repräsentirt war. Schon bei dem grossen Dichter aber darf man sich wohl fragen, ob er durch seine Symbolik oder trotz derselben gross ist. Dieselbe war nicht durch und mit Dichtung und Kunst entstanden wie im Alterthum, sondern Dichtung und Kunst mussten sich ihr bequemen. Bei Dante freilich liegt Alles untrennbar durch und in einander; er ist ebensosehr Gelehrter und Theolog als Dichter. Der Künstler dagegen war hier auf etwas ausser seiner Sphäre liegendes angewiesen, er musste dienen, und that es mit hei- ligem Ernst. Wir aber sind nicht verpflichtet, die Empfindungsweise einer zwar strebenden, aber doch nicht harmonischen Zeit und noch viel weniger ihre zu einer wunderlichen Encyclopädie geordneten Bildungselemente zur Norm für uns selber zu machen; vielmehr muss hier neben dem Ewigen, das jene Kunst schuf und dem wir ganz folgen können, auch das Vergängliche und Befangene anerkannt werden. Die Allegorie ist zunächst die Darstellung eines abstracten Begriffes in menschlicher Gestalt. Um kenntlich zu sein, muss sie in Charakter und Attributen diesem Begriff möglichst zu entsprechen suchen; nicht immer kann man durch eine Beischrift nachhelfen. Ich

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 767. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/789>, abgerufen am 17.06.2024.