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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
seinen byzantinischen Vorgängern aber sich noch nicht von selbst ver-
stand und nicht vorhanden ist.

Die tief in sich versunkene Trauer: Joachim bei den Hirten; er
kommt zu ihnen gewandelt wie im Traum. -- Der liebevolle Empfang:
Joachims Heimkehr zur Anna, welche seinen Kopf ganz anmuthig mit
beiden Händen fasst und ihn küsst. -- Das Harren mit tiefster Er-
regung: die vor dem Altar knieenden Freier der heil. Jungfrau, theils
in flehendem Gebet, theils in der höchsten Spannung, die würdevollste
Gruppe ohne allen äusserlichen Affect. -- Das stumme Fragen und
Errathen: die wundervolle Gruppe der Heimsuchung. -- Die getheilte
Handlung der mittlern Figur in der Auferweckung des Lazarus; noch
streckt der Dargestellte die rechte Hand gegen Christus, dem er sich
unmittelbar vorher flehend zugewandt haben wird; jetzt mit der Ge-
berde der höchsten Aufregung wendet er sich gegen Lazarus. -- Der
geheime Auftrag: die Unterhandlung des Judas mit dem Priester,
dessen beide Hände (wie bei Giotto so oft) zu sprechen scheinen. --
Der Hohn: in der Gruppe der Verspottung besonders meisterhaft der
sich heuchlerisch gebückt Nahende. -- Die hohe Mässigung alles Pa-
thetischen: in der Gruppe unter dem Kreuz lehnt Maria, zwar ohn-
mächtig aber noch stehend, in den Armen der Ihrigen; was diese
bekümmert ist nicht (wie bei den Malern des XVII. Jahrh.) die Ohn-
macht an sich, sondern der gewaltige Schmerz. -- Ein Dialog in Ge-
berden: die Soldaten mit Christi Mantel; man glaubt ihre Worte zu
vernehmen. -- Die Klage um den todten Christus ist ohne irgend
einen Zug der Grimasse 1) gegeben; der Leichnam ist gleichsam ganz
in Liebe und Schmerz eingehüllt; Schultern und Rücken liegen auf
den Knien der ihn umarmenden Mutter; eine heilige Frau stützt sein
Haupt, eine hebt seine rechte, eine seine linke Hand empor; Magda-
lena, die Büsserin, auf der Erde sitzend, hält und beschaut die Füsse.
-- Ein einziges Mal hat Giotto in diesem wunderbaren Bilderkreis
über das Ziel geschossen: bei Mariä Himmelfahrt stürzen die Apostel
zur Erde nicht sowohl aus Andacht, als getroffen von den Strahlen,
die von ihrer Glorie ausgehen. Sonst überall sind die Causalitäten

1) Wenn es nicht schon etwas zu viel ist, dass Johannes sich auf die Leiche
werfen will.

Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule.
seinen byzantinischen Vorgängern aber sich noch nicht von selbst ver-
stand und nicht vorhanden ist.

Die tief in sich versunkene Trauer: Joachim bei den Hirten; er
kommt zu ihnen gewandelt wie im Traum. — Der liebevolle Empfang:
Joachims Heimkehr zur Anna, welche seinen Kopf ganz anmuthig mit
beiden Händen fasst und ihn küsst. — Das Harren mit tiefster Er-
regung: die vor dem Altar knieenden Freier der heil. Jungfrau, theils
in flehendem Gebet, theils in der höchsten Spannung, die würdevollste
Gruppe ohne allen äusserlichen Affect. — Das stumme Fragen und
Errathen: die wundervolle Gruppe der Heimsuchung. — Die getheilte
Handlung der mittlern Figur in der Auferweckung des Lazarus; noch
streckt der Dargestellte die rechte Hand gegen Christus, dem er sich
unmittelbar vorher flehend zugewandt haben wird; jetzt mit der Ge-
berde der höchsten Aufregung wendet er sich gegen Lazarus. — Der
geheime Auftrag: die Unterhandlung des Judas mit dem Priester,
dessen beide Hände (wie bei Giotto so oft) zu sprechen scheinen. —
Der Hohn: in der Gruppe der Verspottung besonders meisterhaft der
sich heuchlerisch gebückt Nahende. — Die hohe Mässigung alles Pa-
thetischen: in der Gruppe unter dem Kreuz lehnt Maria, zwar ohn-
mächtig aber noch stehend, in den Armen der Ihrigen; was diese
bekümmert ist nicht (wie bei den Malern des XVII. Jahrh.) die Ohn-
macht an sich, sondern der gewaltige Schmerz. — Ein Dialog in Ge-
berden: die Soldaten mit Christi Mantel; man glaubt ihre Worte zu
vernehmen. — Die Klage um den todten Christus ist ohne irgend
einen Zug der Grimasse 1) gegeben; der Leichnam ist gleichsam ganz
in Liebe und Schmerz eingehüllt; Schultern und Rücken liegen auf
den Knien der ihn umarmenden Mutter; eine heilige Frau stützt sein
Haupt, eine hebt seine rechte, eine seine linke Hand empor; Magda-
lena, die Büsserin, auf der Erde sitzend, hält und beschaut die Füsse.
— Ein einziges Mal hat Giotto in diesem wunderbaren Bilderkreis
über das Ziel geschossen: bei Mariä Himmelfahrt stürzen die Apostel
zur Erde nicht sowohl aus Andacht, als getroffen von den Strahlen,
die von ihrer Glorie ausgehen. Sonst überall sind die Causalitäten

1) Wenn es nicht schon etwas zu viel ist, dass Johannes sich auf die Leiche
werfen will.
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[762/0784] Malerei des germanischen Styles. Giotto und Schule. seinen byzantinischen Vorgängern aber sich noch nicht von selbst ver- stand und nicht vorhanden ist. Die tief in sich versunkene Trauer: Joachim bei den Hirten; er kommt zu ihnen gewandelt wie im Traum. — Der liebevolle Empfang: Joachims Heimkehr zur Anna, welche seinen Kopf ganz anmuthig mit beiden Händen fasst und ihn küsst. — Das Harren mit tiefster Er- regung: die vor dem Altar knieenden Freier der heil. Jungfrau, theils in flehendem Gebet, theils in der höchsten Spannung, die würdevollste Gruppe ohne allen äusserlichen Affect. — Das stumme Fragen und Errathen: die wundervolle Gruppe der Heimsuchung. — Die getheilte Handlung der mittlern Figur in der Auferweckung des Lazarus; noch streckt der Dargestellte die rechte Hand gegen Christus, dem er sich unmittelbar vorher flehend zugewandt haben wird; jetzt mit der Ge- berde der höchsten Aufregung wendet er sich gegen Lazarus. — Der geheime Auftrag: die Unterhandlung des Judas mit dem Priester, dessen beide Hände (wie bei Giotto so oft) zu sprechen scheinen. — Der Hohn: in der Gruppe der Verspottung besonders meisterhaft der sich heuchlerisch gebückt Nahende. — Die hohe Mässigung alles Pa- thetischen: in der Gruppe unter dem Kreuz lehnt Maria, zwar ohn- mächtig aber noch stehend, in den Armen der Ihrigen; was diese bekümmert ist nicht (wie bei den Malern des XVII. Jahrh.) die Ohn- macht an sich, sondern der gewaltige Schmerz. — Ein Dialog in Ge- berden: die Soldaten mit Christi Mantel; man glaubt ihre Worte zu vernehmen. — Die Klage um den todten Christus ist ohne irgend einen Zug der Grimasse 1) gegeben; der Leichnam ist gleichsam ganz in Liebe und Schmerz eingehüllt; Schultern und Rücken liegen auf den Knien der ihn umarmenden Mutter; eine heilige Frau stützt sein Haupt, eine hebt seine rechte, eine seine linke Hand empor; Magda- lena, die Büsserin, auf der Erde sitzend, hält und beschaut die Füsse. — Ein einziges Mal hat Giotto in diesem wunderbaren Bilderkreis über das Ziel geschossen: bei Mariä Himmelfahrt stürzen die Apostel zur Erde nicht sowohl aus Andacht, als getroffen von den Strahlen, die von ihrer Glorie ausgehen. Sonst überall sind die Causalitäten 1) Wenn es nicht schon etwas zu viel ist, dass Johannes sich auf die Leiche werfen will.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 762. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/784>, abgerufen am 17.06.2024.