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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Barocksculptur. Freistehende Altargruppen.
pen 1) dieser Art. Es ist hauptsächlich die von Engeln gen Himmel
getragene Assunta, wie sie etwa Guido Reni aufgefasst hatte, mit ge-
kreuzten oder ausgestreckten Armen und im letztern Fall sogar oft
eher declamatorisch als ekstatisch. Oder der Kirchenheilige in einer
aEngelglorie. In Genua z. B. kam es so weit, dass fast kein Haupt-
altar mehr ohne eine solche Gruppe blieb. Man sieht dergleichen von
Puget auf dem Hauptaltar der Kirche des Albergo de' Poveri, von
Domenico und Filippo Parodi und Andern auf den Altären von S.
bMaria di Castello, S. Pancrazio, S. Carlo etc. Das Auge hält sie von
Weitem für Phantasieornamente und kann sie erst in der Nähe ent-
ziffern. Die halbe Illusion, welche sie erreichen, steht im widerlich-
sten Missverhältniss zu der ganzen Illusion, nach welcher die Decken-
fresken streben; oft bilden sie eine dunkle Silhouette gegen einen
lichten Chor; ausserdem steht ihre Proportion in gar keiner Beziehung
zu den Proportionen aller andern Bildwerke der Kirche; sie hätten
eigentlich höchst colossal gebildet werden müssen. Danken wir gleich-
wohl dem Himmel, dass diess nicht geschehen ist. -- Eine unterste
cStufe der Ausartung bezeichnet nach dieser Seite Ticciati's Altar-
gruppe im Baptisterium von Florenz (1732). Von den für schwebend
geltenden Engeln trägt der eine die Wolke, auf welcher Johannes
d. T. kniet; der andere stützt sie mit dem Rücken; ein Stück Wolke
quillt bis über den Sockel herunter. Auf gemeinere Weise liess sich
das Übersinnliche nicht versinnlichen, selbst abgesehen von der süss-
lich unwahren Formenbildung. -- Auf dem Hochaltar der Jesuiten-
dkirche zu Venedig sieht man Christus und Gottvater sehr künstlich
balancirend auf der von Engeln mit sehr wirklicher Anstrengung ge-
tragenen Weltkugel sitzen; es wäre nun gar zu einfach gewesen, die
Engel auf dem Boden stehen zu lassen -- sie schweben auf Marmor-
wolken.


Bei solchen Excessen mussten die Klügern auf den Gedanken
kommen, dass es besser wäre, die freistehende Gruppe ganz aufzu-

1) Der berühmte jetztlebende amerikanische Bildhauer Crawford, der seine Figu-
ren auch gerne schweben lässt, giebt dem Schweben eine Richtung seitwärts,
vom Postament weg. Solches geschieht heut zu Tage in Rom, doch glück-
licher Weise noch nicht für europäische Kunstfreunde.

Barocksculptur. Freistehende Altargruppen.
pen 1) dieser Art. Es ist hauptsächlich die von Engeln gen Himmel
getragene Assunta, wie sie etwa Guido Reni aufgefasst hatte, mit ge-
kreuzten oder ausgestreckten Armen und im letztern Fall sogar oft
eher declamatorisch als ekstatisch. Oder der Kirchenheilige in einer
aEngelglorie. In Genua z. B. kam es so weit, dass fast kein Haupt-
altar mehr ohne eine solche Gruppe blieb. Man sieht dergleichen von
Puget auf dem Hauptaltar der Kirche des Albergo de’ Poveri, von
Domenico und Filippo Parodi und Andern auf den Altären von S.
bMaria di Castello, S. Pancrazio, S. Carlo etc. Das Auge hält sie von
Weitem für Phantasieornamente und kann sie erst in der Nähe ent-
ziffern. Die halbe Illusion, welche sie erreichen, steht im widerlich-
sten Missverhältniss zu der ganzen Illusion, nach welcher die Decken-
fresken streben; oft bilden sie eine dunkle Silhouette gegen einen
lichten Chor; ausserdem steht ihre Proportion in gar keiner Beziehung
zu den Proportionen aller andern Bildwerke der Kirche; sie hätten
eigentlich höchst colossal gebildet werden müssen. Danken wir gleich-
wohl dem Himmel, dass diess nicht geschehen ist. — Eine unterste
cStufe der Ausartung bezeichnet nach dieser Seite Ticciati’s Altar-
gruppe im Baptisterium von Florenz (1732). Von den für schwebend
geltenden Engeln trägt der eine die Wolke, auf welcher Johannes
d. T. kniet; der andere stützt sie mit dem Rücken; ein Stück Wolke
quillt bis über den Sockel herunter. Auf gemeinere Weise liess sich
das Übersinnliche nicht versinnlichen, selbst abgesehen von der süss-
lich unwahren Formenbildung. — Auf dem Hochaltar der Jesuiten-
dkirche zu Venedig sieht man Christus und Gottvater sehr künstlich
balancirend auf der von Engeln mit sehr wirklicher Anstrengung ge-
tragenen Weltkugel sitzen; es wäre nun gar zu einfach gewesen, die
Engel auf dem Boden stehen zu lassen — sie schweben auf Marmor-
wolken.


Bei solchen Excessen mussten die Klügern auf den Gedanken
kommen, dass es besser wäre, die freistehende Gruppe ganz aufzu-

1) Der berühmte jetztlebende amerikanische Bildhauer Crawford, der seine Figu-
ren auch gerne schweben lässt, giebt dem Schweben eine Richtung seitwärts,
vom Postament weg. Solches geschieht heut zu Tage in Rom, doch glück-
licher Weise noch nicht für europäische Kunstfreunde.
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[708/0730] Barocksculptur. Freistehende Altargruppen. pen 1) dieser Art. Es ist hauptsächlich die von Engeln gen Himmel getragene Assunta, wie sie etwa Guido Reni aufgefasst hatte, mit ge- kreuzten oder ausgestreckten Armen und im letztern Fall sogar oft eher declamatorisch als ekstatisch. Oder der Kirchenheilige in einer Engelglorie. In Genua z. B. kam es so weit, dass fast kein Haupt- altar mehr ohne eine solche Gruppe blieb. Man sieht dergleichen von Puget auf dem Hauptaltar der Kirche des Albergo de’ Poveri, von Domenico und Filippo Parodi und Andern auf den Altären von S. Maria di Castello, S. Pancrazio, S. Carlo etc. Das Auge hält sie von Weitem für Phantasieornamente und kann sie erst in der Nähe ent- ziffern. Die halbe Illusion, welche sie erreichen, steht im widerlich- sten Missverhältniss zu der ganzen Illusion, nach welcher die Decken- fresken streben; oft bilden sie eine dunkle Silhouette gegen einen lichten Chor; ausserdem steht ihre Proportion in gar keiner Beziehung zu den Proportionen aller andern Bildwerke der Kirche; sie hätten eigentlich höchst colossal gebildet werden müssen. Danken wir gleich- wohl dem Himmel, dass diess nicht geschehen ist. — Eine unterste Stufe der Ausartung bezeichnet nach dieser Seite Ticciati’s Altar- gruppe im Baptisterium von Florenz (1732). Von den für schwebend geltenden Engeln trägt der eine die Wolke, auf welcher Johannes d. T. kniet; der andere stützt sie mit dem Rücken; ein Stück Wolke quillt bis über den Sockel herunter. Auf gemeinere Weise liess sich das Übersinnliche nicht versinnlichen, selbst abgesehen von der süss- lich unwahren Formenbildung. — Auf dem Hochaltar der Jesuiten- kirche zu Venedig sieht man Christus und Gottvater sehr künstlich balancirend auf der von Engeln mit sehr wirklicher Anstrengung ge- tragenen Weltkugel sitzen; es wäre nun gar zu einfach gewesen, die Engel auf dem Boden stehen zu lassen — sie schweben auf Marmor- wolken. a b c d Bei solchen Excessen mussten die Klügern auf den Gedanken kommen, dass es besser wäre, die freistehende Gruppe ganz aufzu- 1) Der berühmte jetztlebende amerikanische Bildhauer Crawford, der seine Figu- ren auch gerne schweben lässt, giebt dem Schweben eine Richtung seitwärts, vom Postament weg. Solches geschieht heut zu Tage in Rom, doch glück- licher Weise noch nicht für europäische Kunstfreunde.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/730>, abgerufen am 11.06.2024.