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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Altargruppen als Wandsculpturen.
geben, als ihre Gesetze noch länger mit Füssen zu treten. Und nun
wird endlich das rein malerische Princip zugestanden in vielen Altar-
gruppen, welche nicht mehr frei hinter dem Altar stehen, sondern in
einer Nische dergestalt angebracht sind, dass sie ohne dieselbe nicht
denkbar wären. Sie sind nämlich ganz als Gemälde componirt, selbst
ohne Zusammenhang der Figuren, mit Preisgebung aller plastischen
Gesetze. Von den Wänden der Nische aus schweben z. B. Wolken
in verschiedenen Distanzen her, auf welchen zerstreut Madonna, Engel,a
S. Augustin und S. Monica in Ekstase sitzen, kauern, knieen u. s. w.
(Altar des rechten Querschiffes in S. Maria della consolazione in Ge-
nua, von Schiaffino um 1718.) Aus den hundert andern Gruppen
dieser Wandsculptur heben wir nur noch zwei in Rom befindliche
besonders hervor: die Wohlthätigkeit des heil. Augustin (Altar desb
linken Querschiffes in S. Agostino), von dem Malteser Melchiorre Gafa,
wegen der fleissigen Arbeit und eines Restes von Naivetät -- und die
berühmte Verzückung der heil. Teresa (im linken Querschiffc
von S. M. della Vittoria), von Bernini. In hysterischer Ohnmacht,
mit gebrochenem Blick, auf einer Wolkenmasse liegend streckt die
Heilige ihre Glieder von sich, während ein lüsterner Engel mit dem
Pfeil (d. h. dem Sinnbild der göttlichen Liebe) auf sie zielt. Hier
vergisst man freilich alle blossen Stylfragen über der empörenden De-
gradation des Übernatürlichen.

Da überall die Absicht auf Illusion mitspielt, so scheut sich auch
die Sculptur so wenig als die decorirende Malerei (S. 389), ihre Ge-
stalten bei Gelegenheit weit aus dem Rahmen heraustreten zu lassen,
überhaupt keine architektonische Einfassung mehr anzuerkennen. Es
genügt, auf Bernini's "Catedra" (hinten im Chor von S. Peter) zud
verweisen, welche unten als Freigruppe der vier Kirchenlehrer an-
fängt, um oben als Wanddecoration um ein Ovalfenster (Engelschaaren
zwischen Wolken und Strahlen vertheilt) zu schliessen. Es ist das
rohste Werk des Meisters, eine blosse Decoration und Improvisation;
er hätte wenigstens nicht zum Vergleich mit der danebenstehenden so-
lidern Arbeit seiner eigenen frühern Zeit, dem Denkmal Urbans VIII,
so unvorsichtig auffordern sollen.


Altargruppen als Wandsculpturen.
geben, als ihre Gesetze noch länger mit Füssen zu treten. Und nun
wird endlich das rein malerische Princip zugestanden in vielen Altar-
gruppen, welche nicht mehr frei hinter dem Altar stehen, sondern in
einer Nische dergestalt angebracht sind, dass sie ohne dieselbe nicht
denkbar wären. Sie sind nämlich ganz als Gemälde componirt, selbst
ohne Zusammenhang der Figuren, mit Preisgebung aller plastischen
Gesetze. Von den Wänden der Nische aus schweben z. B. Wolken
in verschiedenen Distanzen her, auf welchen zerstreut Madonna, Engel,a
S. Augustin und S. Monica in Ekstase sitzen, kauern, knieen u. s. w.
(Altar des rechten Querschiffes in S. Maria della consolazione in Ge-
nua, von Schiaffino um 1718.) Aus den hundert andern Gruppen
dieser Wandsculptur heben wir nur noch zwei in Rom befindliche
besonders hervor: die Wohlthätigkeit des heil. Augustin (Altar desb
linken Querschiffes in S. Agostino), von dem Malteser Melchiorre Gafa,
wegen der fleissigen Arbeit und eines Restes von Naivetät — und die
berühmte Verzückung der heil. Teresa (im linken Querschiffc
von S. M. della Vittoria), von Bernini. In hysterischer Ohnmacht,
mit gebrochenem Blick, auf einer Wolkenmasse liegend streckt die
Heilige ihre Glieder von sich, während ein lüsterner Engel mit dem
Pfeil (d. h. dem Sinnbild der göttlichen Liebe) auf sie zielt. Hier
vergisst man freilich alle blossen Stylfragen über der empörenden De-
gradation des Übernatürlichen.

Da überall die Absicht auf Illusion mitspielt, so scheut sich auch
die Sculptur so wenig als die decorirende Malerei (S. 389), ihre Ge-
stalten bei Gelegenheit weit aus dem Rahmen heraustreten zu lassen,
überhaupt keine architektonische Einfassung mehr anzuerkennen. Es
genügt, auf Bernini’s „Catedra“ (hinten im Chor von S. Peter) zud
verweisen, welche unten als Freigruppe der vier Kirchenlehrer an-
fängt, um oben als Wanddecoration um ein Ovalfenster (Engelschaaren
zwischen Wolken und Strahlen vertheilt) zu schliessen. Es ist das
rohste Werk des Meisters, eine blosse Decoration und Improvisation;
er hätte wenigstens nicht zum Vergleich mit der danebenstehenden so-
lidern Arbeit seiner eigenen frühern Zeit, dem Denkmal Urbans VIII,
so unvorsichtig auffordern sollen.


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[709/0731] Altargruppen als Wandsculpturen. geben, als ihre Gesetze noch länger mit Füssen zu treten. Und nun wird endlich das rein malerische Princip zugestanden in vielen Altar- gruppen, welche nicht mehr frei hinter dem Altar stehen, sondern in einer Nische dergestalt angebracht sind, dass sie ohne dieselbe nicht denkbar wären. Sie sind nämlich ganz als Gemälde componirt, selbst ohne Zusammenhang der Figuren, mit Preisgebung aller plastischen Gesetze. Von den Wänden der Nische aus schweben z. B. Wolken in verschiedenen Distanzen her, auf welchen zerstreut Madonna, Engel, S. Augustin und S. Monica in Ekstase sitzen, kauern, knieen u. s. w. (Altar des rechten Querschiffes in S. Maria della consolazione in Ge- nua, von Schiaffino um 1718.) Aus den hundert andern Gruppen dieser Wandsculptur heben wir nur noch zwei in Rom befindliche besonders hervor: die Wohlthätigkeit des heil. Augustin (Altar des linken Querschiffes in S. Agostino), von dem Malteser Melchiorre Gafa, wegen der fleissigen Arbeit und eines Restes von Naivetät — und die berühmte Verzückung der heil. Teresa (im linken Querschiff von S. M. della Vittoria), von Bernini. In hysterischer Ohnmacht, mit gebrochenem Blick, auf einer Wolkenmasse liegend streckt die Heilige ihre Glieder von sich, während ein lüsterner Engel mit dem Pfeil (d. h. dem Sinnbild der göttlichen Liebe) auf sie zielt. Hier vergisst man freilich alle blossen Stylfragen über der empörenden De- gradation des Übernatürlichen. a b c Da überall die Absicht auf Illusion mitspielt, so scheut sich auch die Sculptur so wenig als die decorirende Malerei (S. 389), ihre Ge- stalten bei Gelegenheit weit aus dem Rahmen heraustreten zu lassen, überhaupt keine architektonische Einfassung mehr anzuerkennen. Es genügt, auf Bernini’s „Catedra“ (hinten im Chor von S. Peter) zu verweisen, welche unten als Freigruppe der vier Kirchenlehrer an- fängt, um oben als Wanddecoration um ein Ovalfenster (Engelschaaren zwischen Wolken und Strahlen vertheilt) zu schliessen. Es ist das rohste Werk des Meisters, eine blosse Decoration und Improvisation; er hätte wenigstens nicht zum Vergleich mit der danebenstehenden so- lidern Arbeit seiner eigenen frühern Zeit, dem Denkmal Urbans VIII, so unvorsichtig auffordern sollen. d

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/731>, abgerufen am 11.06.2024.