Geschmack (S. 390) höchst gefährlich balancirend sitzen. (Ein Bei- spiel von vielen in S. Petronio zu Bologna, 2. Cap. links.) Was unsa besorgt macht, ist der Naturalismus ihrer Darstellung und die seil- tänzerische Prätension auf ein wirkliches Verhältniss zu dem Raume wo sie sich befinden, d. h. auf ein wirkliches Sitzen, Stehen, Lehnen an einer halsbrechenden Stelle. Für eine Statue des XIV. Jahrh., mit ihrem einfachen idealen Styl, ist dem Auge niemals bange, so hoch und dünn auch das Spitzthürmchen sein mag, auf welchem sie steht.
Doch wir müssen noch einmal zu den Grabmälern zurückkehren. Die Nachtreter haben Bernini weit überboten sowohl in der plastischen als in der poetischen Rücksichtslosigkeit. Als sie einmal, wie bei Anlass der Altargruppen weiter zu erörtern ist, die Gattungen der Freisculptur und des Hochreliefs zu einer Zwitterstufe, der Wand- sculptur (sit venia verbo) vermengt hatten, war schlechterdings Alles möglich. Bei der totalen Verwilderung des Styles rivalisirte man jetzt fast nur noch in "Ideen", d. h. in Einfällen und, wer seine Geschicklichkeit zeigen wollte, in naturalistischem Detail. Hier halten weinende Putten ein Bildnissmedaillon; dort beugt sich ein Prälat über sein Betpult hervor; ein verhülltes Gerippe öffnet den Sarg; abwärts purzelnde Laster werden von einer Inschrifttafel er- drückt, über welcher oben ein fader Posaunenengel mit einem Me- daillon schwebt; für alle Arten von Raumabstufung müssen marmorne Wolken herhalten, die aus der Wand hervorquellen, oder es flattern grosse marmorne Draperien rings herum, für deren Brüche und Bau- schen die Motivirung erst zu errathen ist. Statt aller Denkmäler dieser Art nennen wir nur das der Maria Sobieska im linken Seiten-b schiff von S. Peter, als eines der prächtigsten und sorgfältigsten (von Pietro Bracci). -- In Florenz ist die unter Foggini's Leitung decorirtec (1692 vollendete) Cap. Feroni in der Annunziata (die zweite links) ein wahres Prachtstück berninesker Allegorie und Formenbildung. Als Grabcapelle des (in Amsterdam als Kaufmann reich gewordenen, später in Florenz als Senator festgehaltenen) Francesco Feroni hätte sie nur Eines Sarcophages bedurft; der Symmetrie zu Liebe wurden es zweie; auf dem einen sitzen die Treue (mit dem grossen bronzenen
B. Cicerone. 45
Grabmäler als Wandsculpturen.
Geschmack (S. 390) höchst gefährlich balancirend sitzen. (Ein Bei- spiel von vielen in S. Petronio zu Bologna, 2. Cap. links.) Was unsa besorgt macht, ist der Naturalismus ihrer Darstellung und die seil- tänzerische Prätension auf ein wirkliches Verhältniss zu dem Raume wo sie sich befinden, d. h. auf ein wirkliches Sitzen, Stehen, Lehnen an einer halsbrechenden Stelle. Für eine Statue des XIV. Jahrh., mit ihrem einfachen idealen Styl, ist dem Auge niemals bange, so hoch und dünn auch das Spitzthürmchen sein mag, auf welchem sie steht.
Doch wir müssen noch einmal zu den Grabmälern zurückkehren. Die Nachtreter haben Bernini weit überboten sowohl in der plastischen als in der poetischen Rücksichtslosigkeit. Als sie einmal, wie bei Anlass der Altargruppen weiter zu erörtern ist, die Gattungen der Freisculptur und des Hochreliefs zu einer Zwitterstufe, der Wand- sculptur (sit venia verbo) vermengt hatten, war schlechterdings Alles möglich. Bei der totalen Verwilderung des Styles rivalisirte man jetzt fast nur noch in „Ideen“, d. h. in Einfällen und, wer seine Geschicklichkeit zeigen wollte, in naturalistischem Detail. Hier halten weinende Putten ein Bildnissmedaillon; dort beugt sich ein Prälat über sein Betpult hervor; ein verhülltes Gerippe öffnet den Sarg; abwärts purzelnde Laster werden von einer Inschrifttafel er- drückt, über welcher oben ein fader Posaunenengel mit einem Me- daillon schwebt; für alle Arten von Raumabstufung müssen marmorne Wolken herhalten, die aus der Wand hervorquellen, oder es flattern grosse marmorne Draperien rings herum, für deren Brüche und Bau- schen die Motivirung erst zu errathen ist. Statt aller Denkmäler dieser Art nennen wir nur das der Maria Sobieska im linken Seiten-b schiff von S. Peter, als eines der prächtigsten und sorgfältigsten (von Pietro Bracci). — In Florenz ist die unter Foggini’s Leitung decorirtec (1692 vollendete) Cap. Feroni in der Annunziata (die zweite links) ein wahres Prachtstück berninesker Allegorie und Formenbildung. Als Grabcapelle des (in Amsterdam als Kaufmann reich gewordenen, später in Florenz als Senator festgehaltenen) Francesco Feroni hätte sie nur Eines Sarcophages bedurft; der Symmetrie zu Liebe wurden es zweie; auf dem einen sitzen die Treue (mit dem grossen bronzenen
B. Cicerone. 45
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Grabmäler als Wandsculpturen.
Geschmack (S. 390) höchst gefährlich balancirend sitzen. (Ein Bei-
spiel von vielen in S. Petronio zu Bologna, 2. Cap. links.) Was uns
besorgt macht, ist der Naturalismus ihrer Darstellung und die seil-
tänzerische Prätension auf ein wirkliches Verhältniss zu dem Raume
wo sie sich befinden, d. h. auf ein wirkliches Sitzen, Stehen, Lehnen
an einer halsbrechenden Stelle. Für eine Statue des XIV. Jahrh.,
mit ihrem einfachen idealen Styl, ist dem Auge niemals bange, so hoch
und dünn auch das Spitzthürmchen sein mag, auf welchem sie steht.
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Doch wir müssen noch einmal zu den Grabmälern zurückkehren.
Die Nachtreter haben Bernini weit überboten sowohl in der plastischen
als in der poetischen Rücksichtslosigkeit. Als sie einmal, wie bei
Anlass der Altargruppen weiter zu erörtern ist, die Gattungen der
Freisculptur und des Hochreliefs zu einer Zwitterstufe, der Wand-
sculptur (sit venia verbo) vermengt hatten, war schlechterdings
Alles möglich. Bei der totalen Verwilderung des Styles rivalisirte
man jetzt fast nur noch in „Ideen“, d. h. in Einfällen und, wer
seine Geschicklichkeit zeigen wollte, in naturalistischem Detail. Hier
halten weinende Putten ein Bildnissmedaillon; dort beugt sich ein
Prälat über sein Betpult hervor; ein verhülltes Gerippe öffnet den
Sarg; abwärts purzelnde Laster werden von einer Inschrifttafel er-
drückt, über welcher oben ein fader Posaunenengel mit einem Me-
daillon schwebt; für alle Arten von Raumabstufung müssen marmorne
Wolken herhalten, die aus der Wand hervorquellen, oder es flattern
grosse marmorne Draperien rings herum, für deren Brüche und Bau-
schen die Motivirung erst zu errathen ist. Statt aller Denkmäler
dieser Art nennen wir nur das der Maria Sobieska im linken Seiten-
schiff von S. Peter, als eines der prächtigsten und sorgfältigsten (von
Pietro Bracci). — In Florenz ist die unter Foggini’s Leitung decorirte
(1692 vollendete) Cap. Feroni in der Annunziata (die zweite links)
ein wahres Prachtstück berninesker Allegorie und Formenbildung.
Als Grabcapelle des (in Amsterdam als Kaufmann reich gewordenen,
später in Florenz als Senator festgehaltenen) Francesco Feroni hätte
sie nur Eines Sarcophages bedurft; der Symmetrie zu Liebe wurden
es zweie; auf dem einen sitzen die Treue (mit dem grossen bronzenen
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 705. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/727>, abgerufen am 18.12.2024.
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