Übrigens sind dieses seltene Ausnahmen. Der Barockstyl liebt viel zu sehr das Massenhafte und in seinem Sinn glänzende Improvi- siren, um sich häufig eine solche Mühe zu machen.
Welches war nun der Affect, dem zu Liebe Bernini die ewi- gen Gesetze der Drapirung so bereitwillig preisgab? Bei Anlass der Malerei wird davon umständlicher gehandelt werden; denn bei dieser ging ja die Sculptur jezt in die Schule. Genug, dass nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die Sculptur fährt, dass sie mit der Darstellung des blossen Seins nicht mehr zufrieden ist und um jeden Preis ein Thun darstellen will; nur so glaubt sie etwas zu bedeu- ten. Die heftige Bewegung wird, je weniger tiefere, innere Nothwen- digkeit sie hat, desto absichtlicher in dem Gewande explicirt. Ging man aber so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt nicht mehr zu retten. Die so schwer errungene Einsicht in die for- malen Bedingungen, unter welchen allein die Statue schön sein kann, das Bewusstsein des architektonischen Gesetzes, welches diese stoff- gebundene Gattung allein beschützt und beseelt -- diess ging für an- derthalb Jahrhunderte verloren.
Schon für alle Einzelstatuen (geschweige denn für Gruppen) wird nun irgend ein Moment angenommen, der ihre Bewegung begründen soll. Bisweilen gab es freie Themata, welche aus keinem andern Grunde gewählt wurden. So Bernini's schleudernder David (Villaa Borghese), welcher die grösste äussere Spannung einer gemeinen ju- gendlichen Natur ausdrückt. Aber welcher Moment sollte in die zahl- losen Kirchenstatuen, in all die Engel und Heiligen gelegt werden, die auf Balustraden, in Fassadennischen, in Nebennischen der Altäre u. a. a. O. zu stehen kamen? Die Aufgabe war keine geringe! Ber- nini hatte z. B. mittelbar oder unmittelbar für die 162 Heiligen zub sorgen, welche auf den Colonnaden vor S. Peter stehen, und ähnliche, wenn auch minder ausgedehnte Reihenfolgen kamen bei der Aus- zierung von Gebäuden nicht selten in Arbeit.
Die Sculptur ging nun auch hier der Malerei getreulich nach und nahm ihr den ekstatisch gesteigerten, durch Geberden versinn- lichten Gefühlsausdruck ab. Derselbe ist an sich gar wohl dar-
Der Affect.
Übrigens sind dieses seltene Ausnahmen. Der Barockstyl liebt viel zu sehr das Massenhafte und in seinem Sinn glänzende Improvi- siren, um sich häufig eine solche Mühe zu machen.
Welches war nun der Affect, dem zu Liebe Bernini die ewi- gen Gesetze der Drapirung so bereitwillig preisgab? Bei Anlass der Malerei wird davon umständlicher gehandelt werden; denn bei dieser ging ja die Sculptur jezt in die Schule. Genug, dass nunmehr ein falsches dramatisches Leben in die Sculptur fährt, dass sie mit der Darstellung des blossen Seins nicht mehr zufrieden ist und um jeden Preis ein Thun darstellen will; nur so glaubt sie etwas zu bedeu- ten. Die heftige Bewegung wird, je weniger tiefere, innere Nothwen- digkeit sie hat, desto absichtlicher in dem Gewande explicirt. Ging man aber so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt nicht mehr zu retten. Die so schwer errungene Einsicht in die for- malen Bedingungen, unter welchen allein die Statue schön sein kann, das Bewusstsein des architektonischen Gesetzes, welches diese stoff- gebundene Gattung allein beschützt und beseelt — diess ging für an- derthalb Jahrhunderte verloren.
Schon für alle Einzelstatuen (geschweige denn für Gruppen) wird nun irgend ein Moment angenommen, der ihre Bewegung begründen soll. Bisweilen gab es freie Themata, welche aus keinem andern Grunde gewählt wurden. So Bernini’s schleudernder David (Villaa Borghese), welcher die grösste äussere Spannung einer gemeinen ju- gendlichen Natur ausdrückt. Aber welcher Moment sollte in die zahl- losen Kirchenstatuen, in all die Engel und Heiligen gelegt werden, die auf Balustraden, in Fassadennischen, in Nebennischen der Altäre u. a. a. O. zu stehen kamen? Die Aufgabe war keine geringe! Ber- nini hatte z. B. mittelbar oder unmittelbar für die 162 Heiligen zub sorgen, welche auf den Colonnaden vor S. Peter stehen, und ähnliche, wenn auch minder ausgedehnte Reihenfolgen kamen bei der Aus- zierung von Gebäuden nicht selten in Arbeit.
Die Sculptur ging nun auch hier der Malerei getreulich nach und nahm ihr den ekstatisch gesteigerten, durch Geberden versinn- lichten Gefühlsausdruck ab. Derselbe ist an sich gar wohl dar-
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Der Affect.
Übrigens sind dieses seltene Ausnahmen. Der Barockstyl liebt
viel zu sehr das Massenhafte und in seinem Sinn glänzende Improvi-
siren, um sich häufig eine solche Mühe zu machen.
Welches war nun der Affect, dem zu Liebe Bernini die ewi-
gen Gesetze der Drapirung so bereitwillig preisgab? Bei Anlass der
Malerei wird davon umständlicher gehandelt werden; denn bei dieser
ging ja die Sculptur jezt in die Schule. Genug, dass nunmehr ein
falsches dramatisches Leben in die Sculptur fährt, dass sie mit der
Darstellung des blossen Seins nicht mehr zufrieden ist und um jeden
Preis ein Thun darstellen will; nur so glaubt sie etwas zu bedeu-
ten. Die heftige Bewegung wird, je weniger tiefere, innere Nothwen-
digkeit sie hat, desto absichtlicher in dem Gewande explicirt. Ging
man aber so weit, so war auch die plastische Composition überhaupt
nicht mehr zu retten. Die so schwer errungene Einsicht in die for-
malen Bedingungen, unter welchen allein die Statue schön sein kann,
das Bewusstsein des architektonischen Gesetzes, welches diese stoff-
gebundene Gattung allein beschützt und beseelt — diess ging für an-
derthalb Jahrhunderte verloren.
Schon für alle Einzelstatuen (geschweige denn für Gruppen) wird
nun irgend ein Moment angenommen, der ihre Bewegung begründen
soll. Bisweilen gab es freie Themata, welche aus keinem andern
Grunde gewählt wurden. So Bernini’s schleudernder David (Villa
Borghese), welcher die grösste äussere Spannung einer gemeinen ju-
gendlichen Natur ausdrückt. Aber welcher Moment sollte in die zahl-
losen Kirchenstatuen, in all die Engel und Heiligen gelegt werden, die
auf Balustraden, in Fassadennischen, in Nebennischen der Altäre
u. a. a. O. zu stehen kamen? Die Aufgabe war keine geringe! Ber-
nini hatte z. B. mittelbar oder unmittelbar für die 162 Heiligen zu
sorgen, welche auf den Colonnaden vor S. Peter stehen, und ähnliche,
wenn auch minder ausgedehnte Reihenfolgen kamen bei der Aus-
zierung von Gebäuden nicht selten in Arbeit.
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Die Sculptur ging nun auch hier der Malerei getreulich nach und
nahm ihr den ekstatisch gesteigerten, durch Geberden versinn-
lichten Gefühlsausdruck ab. Derselbe ist an sich gar wohl dar-
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/719>, abgerufen am 18.12.2024.
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