system des XV. Jahrh. (Das bald darauf verlassen wurde, um jenen grossen Freigruppen Platz zu machen, mit welchen dann so Wenige etwas anzufangen wussten.) Die allegorischen Figuren stehen noch halblebensgross in ihren Nischen; ihre Schönheit ist aber der genau- sten Betrachtung werth. (Die Gewänder nicht im Verhältniss zum Massstab und desshalb scheinbar schwer drapirt.) Ganz wunderbar edel sind dann die beiden schlummernd liegenden Prälaten gebildet; das auf den Arm gestützte Haupt motivirt die köstlichste Belebung der ganzen Gestalt; dieser Schlaf ist gegenüber den frühern symme- trisch ausgestreckten Grabstatuen vielleicht Naturalismus gegenüber dem strengen Styl; allein er ist so gegeben, dass das Urtheil verstummt. Auch die Madonnenreliefs in den Lunetten und vorzüglich die Engel mit Leuchtern oben sind bewunderswerth.
a
In der Sacramentsnische von S. Spirito in Florenz (linkes Quer- schiff) sind von Andrea wohl nur die Statuetten der beiden Apostel' die Engel mit den Candelabern, das Christuskind oben im gebroche- nen Giebel und möglicher Weise die Reliefs der Predella. Diese Figuren sind in Schönheit und Styl den eben genannten verwandt. Der Rest (die Lunette mit der Krönung Mariä, die Rundreliefs mit der Verkündigung, der Altarvorsatz mit einer Pieta) scheinen von irgend einem Florentiner aus der Schule des Mino oder Rosellino zu sein 1).
b
In S. Agostino zu Rom (2. Cap. links) steht, leider im schlech- testen Licht, die Gruppe der heil. Anna mit der Jungfrau Maria und dem Kinde, Stiftung eines deutschen Protonotars, Johann Coricius, vom Jahr 1512. Alles erwogen, ist es das anmuthigste Sculpturwerk des Jahrhunderts, schön und frei in den Linien und Formen und vom holdesten Ausdruck der Mütterlichkeit auf zweierlei Stufen.
c
Das Höchste aber möchte Andrea erreicht haben in der Gruppe der Taufe Christi über dem Ostportal des Baptisteriums von Florenz. (Den Engel, von Spinazzi, möge man ja wegdenken.) Wel- cher Adel in dieser Gestalt des Christus! und welche Weihe in Aus- druck und Bewegung! In dem Täufer wird man das grandiose Motiv
1) Vasari behandelt das Ganze als ein durchaus von Andrea gearbeitetes Jugend- werk. Allein wenn wirklich Alles daran von ihm ist, so müssen doch die erstgenannten vollkommenern Theile aus einer spätern Epoche des Meisters herrühren.
Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Andrea Sansovino.
system des XV. Jahrh. (Das bald darauf verlassen wurde, um jenen grossen Freigruppen Platz zu machen, mit welchen dann so Wenige etwas anzufangen wussten.) Die allegorischen Figuren stehen noch halblebensgross in ihren Nischen; ihre Schönheit ist aber der genau- sten Betrachtung werth. (Die Gewänder nicht im Verhältniss zum Massstab und desshalb scheinbar schwer drapirt.) Ganz wunderbar edel sind dann die beiden schlummernd liegenden Prälaten gebildet; das auf den Arm gestützte Haupt motivirt die köstlichste Belebung der ganzen Gestalt; dieser Schlaf ist gegenüber den frühern symme- trisch ausgestreckten Grabstatuen vielleicht Naturalismus gegenüber dem strengen Styl; allein er ist so gegeben, dass das Urtheil verstummt. Auch die Madonnenreliefs in den Lunetten und vorzüglich die Engel mit Leuchtern oben sind bewunderswerth.
a
In der Sacramentsnische von S. Spirito in Florenz (linkes Quer- schiff) sind von Andrea wohl nur die Statuetten der beiden Apostel‘ die Engel mit den Candelabern, das Christuskind oben im gebroche- nen Giebel und möglicher Weise die Reliefs der Predella. Diese Figuren sind in Schönheit und Styl den eben genannten verwandt. Der Rest (die Lunette mit der Krönung Mariä, die Rundreliefs mit der Verkündigung, der Altarvorsatz mit einer Pietà) scheinen von irgend einem Florentiner aus der Schule des Mino oder Rosellino zu sein 1).
b
In S. Agostino zu Rom (2. Cap. links) steht, leider im schlech- testen Licht, die Gruppe der heil. Anna mit der Jungfrau Maria und dem Kinde, Stiftung eines deutschen Protonotars, Johann Coricius, vom Jahr 1512. Alles erwogen, ist es das anmuthigste Sculpturwerk des Jahrhunderts, schön und frei in den Linien und Formen und vom holdesten Ausdruck der Mütterlichkeit auf zweierlei Stufen.
c
Das Höchste aber möchte Andrea erreicht haben in der Gruppe der Taufe Christi über dem Ostportal des Baptisteriums von Florenz. (Den Engel, von Spinazzi, möge man ja wegdenken.) Wel- cher Adel in dieser Gestalt des Christus! und welche Weihe in Aus- druck und Bewegung! In dem Täufer wird man das grandiose Motiv
1) Vasari behandelt das Ganze als ein durchaus von Andrea gearbeitetes Jugend- werk. Allein wenn wirklich Alles daran von ihm ist, so müssen doch die erstgenannten vollkommenern Theile aus einer spätern Epoche des Meisters herrühren.
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[640/0662]
Sculptur des XVI. Jahrhunderts. Andrea Sansovino.
system des XV. Jahrh. (Das bald darauf verlassen wurde, um jenen
grossen Freigruppen Platz zu machen, mit welchen dann so Wenige
etwas anzufangen wussten.) Die allegorischen Figuren stehen noch
halblebensgross in ihren Nischen; ihre Schönheit ist aber der genau-
sten Betrachtung werth. (Die Gewänder nicht im Verhältniss zum
Massstab und desshalb scheinbar schwer drapirt.) Ganz wunderbar
edel sind dann die beiden schlummernd liegenden Prälaten gebildet;
das auf den Arm gestützte Haupt motivirt die köstlichste Belebung
der ganzen Gestalt; dieser Schlaf ist gegenüber den frühern symme-
trisch ausgestreckten Grabstatuen vielleicht Naturalismus gegenüber
dem strengen Styl; allein er ist so gegeben, dass das Urtheil verstummt.
Auch die Madonnenreliefs in den Lunetten und vorzüglich die Engel
mit Leuchtern oben sind bewunderswerth.
In der Sacramentsnische von S. Spirito in Florenz (linkes Quer-
schiff) sind von Andrea wohl nur die Statuetten der beiden Apostel‘
die Engel mit den Candelabern, das Christuskind oben im gebroche-
nen Giebel und möglicher Weise die Reliefs der Predella. Diese
Figuren sind in Schönheit und Styl den eben genannten verwandt.
Der Rest (die Lunette mit der Krönung Mariä, die Rundreliefs mit der
Verkündigung, der Altarvorsatz mit einer Pietà) scheinen von irgend
einem Florentiner aus der Schule des Mino oder Rosellino zu sein 1).
In S. Agostino zu Rom (2. Cap. links) steht, leider im schlech-
testen Licht, die Gruppe der heil. Anna mit der Jungfrau Maria und
dem Kinde, Stiftung eines deutschen Protonotars, Johann Coricius,
vom Jahr 1512. Alles erwogen, ist es das anmuthigste Sculpturwerk
des Jahrhunderts, schön und frei in den Linien und Formen und vom
holdesten Ausdruck der Mütterlichkeit auf zweierlei Stufen.
Das Höchste aber möchte Andrea erreicht haben in der Gruppe
der Taufe Christi über dem Ostportal des Baptisteriums von
Florenz. (Den Engel, von Spinazzi, möge man ja wegdenken.) Wel-
cher Adel in dieser Gestalt des Christus! und welche Weihe in Aus-
druck und Bewegung! In dem Täufer wird man das grandiose Motiv
1) Vasari behandelt das Ganze als ein durchaus von Andrea gearbeitetes Jugend-
werk. Allein wenn wirklich Alles daran von ihm ist, so müssen doch die
erstgenannten vollkommenern Theile aus einer spätern Epoche des Meisters
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/662>, abgerufen am 18.12.2024.
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