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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Germanische Sculptur. Venedig. Calendario.
Gebäude führte bei sonst reichen Mitteln von selbst auf einen Ersatz
durch plastischen Schmuck, und bei einem so durchgehenden Bedürf-
niss konnte sich auch eine Schule und eine Tradition entwickeln.

Eine gewisse Einwirkung von der pisanischen Schule her ist wohl
anicht zu läugnen. Man sieht am vordern Portal von S. Maria de'
Frari eine treffliche Madonnenstatue, welche von Niccolo Pisano
sein soll, der bekanntlich durch den Bau dieser Kirche zuerst den
germanischen Baustyl nach Venedig brachte (S. 137, c). Aus der pi-
sanischen Schule ist sie jedenfalls, und vielleicht existirt noch Ande-
res mehr von dieser Art 1). Ausserdem aber hat der Norden, wie auf
Giovanni Pisano, so auch auf die venezianischen Sculptoren einge-
wirkt, und zwar auf diese sehr unmittelbar. Man erkennt diesen Ein-
fluss in der eigenthümlichen Rundung der jugendlichen Köpfe, in der
grössern Strenge der Gewänder, in den ausgeschwungenen Stellungen
(vgl. Seite 566), welche bei den Pisanern ebenfalls, aber in einer an-
dern Nuance vorkommen. Das Wesentliche aber ist, dass dieser Styl
an einer ganzen Anzahl von Werken mit Geist und Leben gehand-
habt wurde.

Die geschichtlichen Anhaltspunkte sind nur spärlich vorhanden,
oder dem Verfasser nicht genügend bekannt. -- Der erste notorische
Meister ist Filippo Calendario, welcher um 1350 den Dogen-
palast erbaute und mit Sculpturen versah. Es sind diess grössere
bRelieffiguren an den Ecken (Taufe Johannis, Sündenfall, Engel etc.),
und ganz besonders die figurirten Capitäle der untern Ordnung. Wenn
auch die geistvollsten und zierlichsten -- unläugbar diejenigen zu-
nächst bei S. Marco -- erst von spätern Meistern sein sollten; so ent-
halten doch auch die übrigen (gegen die Riva und die ersten gegen
die Piazzetta hin) eine Menge von originell gewendeten, ausdrucks-
vollen Figürchen (meist allegorischen Inhaltes). Die Hochreliefgruppe
"Salomo's Urtheil", an der Ecke gegen S. Marco, ist als Ganzes un-
geschickt, im Einzelnen aber sehr würdig und wohl nicht viel später
als Calendario 2).

1) Vasari hatte eine dunkle Kunde, dass Andrea Pisano an S. Marco gearbei-
tet habe.
2) Von dem bei Anlass von Bologna erwähnten Venezianer Lanfrani ist in
Venedig nichts erhalten.

Germanische Sculptur. Venedig. Calendario.
Gebäude führte bei sonst reichen Mitteln von selbst auf einen Ersatz
durch plastischen Schmuck, und bei einem so durchgehenden Bedürf-
niss konnte sich auch eine Schule und eine Tradition entwickeln.

Eine gewisse Einwirkung von der pisanischen Schule her ist wohl
anicht zu läugnen. Man sieht am vordern Portal von S. Maria de’
Frari eine treffliche Madonnenstatue, welche von Niccolò Pisano
sein soll, der bekanntlich durch den Bau dieser Kirche zuerst den
germanischen Baustyl nach Venedig brachte (S. 137, c). Aus der pi-
sanischen Schule ist sie jedenfalls, und vielleicht existirt noch Ande-
res mehr von dieser Art 1). Ausserdem aber hat der Norden, wie auf
Giovanni Pisano, so auch auf die venezianischen Sculptoren einge-
wirkt, und zwar auf diese sehr unmittelbar. Man erkennt diesen Ein-
fluss in der eigenthümlichen Rundung der jugendlichen Köpfe, in der
grössern Strenge der Gewänder, in den ausgeschwungenen Stellungen
(vgl. Seite 566), welche bei den Pisanern ebenfalls, aber in einer an-
dern Nuance vorkommen. Das Wesentliche aber ist, dass dieser Styl
an einer ganzen Anzahl von Werken mit Geist und Leben gehand-
habt wurde.

Die geschichtlichen Anhaltspunkte sind nur spärlich vorhanden,
oder dem Verfasser nicht genügend bekannt. — Der erste notorische
Meister ist Filippo Calendario, welcher um 1350 den Dogen-
palast erbaute und mit Sculpturen versah. Es sind diess grössere
bRelieffiguren an den Ecken (Taufe Johannis, Sündenfall, Engel etc.),
und ganz besonders die figurirten Capitäle der untern Ordnung. Wenn
auch die geistvollsten und zierlichsten — unläugbar diejenigen zu-
nächst bei S. Marco — erst von spätern Meistern sein sollten; so ent-
halten doch auch die übrigen (gegen die Riva und die ersten gegen
die Piazzetta hin) eine Menge von originell gewendeten, ausdrucks-
vollen Figürchen (meist allegorischen Inhaltes). Die Hochreliefgruppe
„Salomo’s Urtheil“, an der Ecke gegen S. Marco, ist als Ganzes un-
geschickt, im Einzelnen aber sehr würdig und wohl nicht viel später
als Calendario 2).

1) Vasari hatte eine dunkle Kunde, dass Andrea Pisano an S. Marco gearbei-
tet habe.
2) Von dem bei Anlass von Bologna erwähnten Venezianer Lanfrani ist in
Venedig nichts erhalten.
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[578/0600] Germanische Sculptur. Venedig. Calendario. Gebäude führte bei sonst reichen Mitteln von selbst auf einen Ersatz durch plastischen Schmuck, und bei einem so durchgehenden Bedürf- niss konnte sich auch eine Schule und eine Tradition entwickeln. Eine gewisse Einwirkung von der pisanischen Schule her ist wohl nicht zu läugnen. Man sieht am vordern Portal von S. Maria de’ Frari eine treffliche Madonnenstatue, welche von Niccolò Pisano sein soll, der bekanntlich durch den Bau dieser Kirche zuerst den germanischen Baustyl nach Venedig brachte (S. 137, c). Aus der pi- sanischen Schule ist sie jedenfalls, und vielleicht existirt noch Ande- res mehr von dieser Art 1). Ausserdem aber hat der Norden, wie auf Giovanni Pisano, so auch auf die venezianischen Sculptoren einge- wirkt, und zwar auf diese sehr unmittelbar. Man erkennt diesen Ein- fluss in der eigenthümlichen Rundung der jugendlichen Köpfe, in der grössern Strenge der Gewänder, in den ausgeschwungenen Stellungen (vgl. Seite 566), welche bei den Pisanern ebenfalls, aber in einer an- dern Nuance vorkommen. Das Wesentliche aber ist, dass dieser Styl an einer ganzen Anzahl von Werken mit Geist und Leben gehand- habt wurde. a Die geschichtlichen Anhaltspunkte sind nur spärlich vorhanden, oder dem Verfasser nicht genügend bekannt. — Der erste notorische Meister ist Filippo Calendario, welcher um 1350 den Dogen- palast erbaute und mit Sculpturen versah. Es sind diess grössere Relieffiguren an den Ecken (Taufe Johannis, Sündenfall, Engel etc.), und ganz besonders die figurirten Capitäle der untern Ordnung. Wenn auch die geistvollsten und zierlichsten — unläugbar diejenigen zu- nächst bei S. Marco — erst von spätern Meistern sein sollten; so ent- halten doch auch die übrigen (gegen die Riva und die ersten gegen die Piazzetta hin) eine Menge von originell gewendeten, ausdrucks- vollen Figürchen (meist allegorischen Inhaltes). Die Hochreliefgruppe „Salomo’s Urtheil“, an der Ecke gegen S. Marco, ist als Ganzes un- geschickt, im Einzelnen aber sehr würdig und wohl nicht viel später als Calendario 2). b 1) Vasari hatte eine dunkle Kunde, dass Andrea Pisano an S. Marco gearbei- tet habe. 2) Von dem bei Anlass von Bologna erwähnten Venezianer Lanfrani ist in Venedig nichts erhalten.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 578. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/600>, abgerufen am 16.06.2024.