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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Sculpturen des Niccolo Pisano in Lucca und Pisa,
verschmelzt Alles durch einen Natursinn, der wahrscheinlich eben erst
durch den Anblick der Antike in ihm geweckt worden war. -- Seine
Arbeiten erreichen wohl bei weitem das Bessere des Alterthums nicht
und können eher geschichtliche Curiosa von erstem Werthe als hohe
und eigenthümliche Schöpfungen heissen. Für die Folgezeit hatten
sie die grosse Bedeutung, dass durch sie die kindischen und abge-
storbenen Formen der Frühern beseitigt waren, und dass der Geist
des Jahrhunderts zwar nicht in antikem Gewande wie bei Niccolo
selbst, aber in einer durch diesen kurzen Übergang wesentlich geläu-
terten Gestalt weiter arbeiten konnte.

Niccolo's frühstes bekanntes Werk ist das Relief der Kreuz-
aabnahme über der linken Thür der Vorhalle des Domes von Lucca
(1233). Abgesehen von den reinen Formen, welche mit den Arbeiten
seiner Zeitgenossen an und zwischen den andern Portalen befremdlich
contrastiren, offenbart sich der grosse Künstler durch eine höchst edle
und geschickte Composition, welche die Momente der Anstrengung
und des Seelenausdruckes vortrefflich vertheilt und damit ein ganz
ausgebildetes Liniengefühl verbindet.

b

Nach langer Zwischenzeit (1260) folgt die weltberühmte Kanzel
des Battistero zu Pisa. (Den Inhalt der Darstellungen s. in den
Reisehandbüchern.) Die Einwirkung der römischen Vorbilder beson-
ders kenntlich in einer Anzahl weiblicher Köpfe (Madonna als Juno
etc.), in der Behandlung der Haare, in der Darstellung des Nackten,
(wobei sich doch schon ein wesentlich neuer naturalistischer Zug ein-
mischt, s. die Fortitudo); auch in der Darstellung der Thiere, z. B.
der Pferdeköpfe bei der Anbetung der Könige, und der vier Löwen,
auf welchen die Säulen ruhen. Dagegen ist die Gewandung mehr
scharf und brüchig als bei den Alten. Im Ausdruck und in der Wahl
der Motive zeigt sich viel Geist und Leben, aber das hohe Mass des
Reliefs von Lucca fehlt gerade der Composition des Christus am Kreuz
auf empfindliche Weise.

c

An der berühmten Arca, dem Sarg des heil. Dominicus in des-
sen Kirche zu Bologna, gelten die Reliefs und die dazwischen be-
findlichen Statuetten des Sarcophages selbst als Werke des Niccolo.
In Betreff der beiden vordern Reliefs (Belebung des Knaben und Ver-
brennung der Bücher) wird man diess wohl zugeben können; die

Sculpturen des Niccolò Pisano in Lucca und Pisa,
verschmelzt Alles durch einen Natursinn, der wahrscheinlich eben erst
durch den Anblick der Antike in ihm geweckt worden war. — Seine
Arbeiten erreichen wohl bei weitem das Bessere des Alterthums nicht
und können eher geschichtliche Curiosa von erstem Werthe als hohe
und eigenthümliche Schöpfungen heissen. Für die Folgezeit hatten
sie die grosse Bedeutung, dass durch sie die kindischen und abge-
storbenen Formen der Frühern beseitigt waren, und dass der Geist
des Jahrhunderts zwar nicht in antikem Gewande wie bei Niccolò
selbst, aber in einer durch diesen kurzen Übergang wesentlich geläu-
terten Gestalt weiter arbeiten konnte.

Niccolò’s frühstes bekanntes Werk ist das Relief der Kreuz-
aabnahme über der linken Thür der Vorhalle des Domes von Lucca
(1233). Abgesehen von den reinen Formen, welche mit den Arbeiten
seiner Zeitgenossen an und zwischen den andern Portalen befremdlich
contrastiren, offenbart sich der grosse Künstler durch eine höchst edle
und geschickte Composition, welche die Momente der Anstrengung
und des Seelenausdruckes vortrefflich vertheilt und damit ein ganz
ausgebildetes Liniengefühl verbindet.

b

Nach langer Zwischenzeit (1260) folgt die weltberühmte Kanzel
des Battistero zu Pisa. (Den Inhalt der Darstellungen s. in den
Reisehandbüchern.) Die Einwirkung der römischen Vorbilder beson-
ders kenntlich in einer Anzahl weiblicher Köpfe (Madonna als Juno
etc.), in der Behandlung der Haare, in der Darstellung des Nackten,
(wobei sich doch schon ein wesentlich neuer naturalistischer Zug ein-
mischt, s. die Fortitudo); auch in der Darstellung der Thiere, z. B.
der Pferdeköpfe bei der Anbetung der Könige, und der vier Löwen,
auf welchen die Säulen ruhen. Dagegen ist die Gewandung mehr
scharf und brüchig als bei den Alten. Im Ausdruck und in der Wahl
der Motive zeigt sich viel Geist und Leben, aber das hohe Mass des
Reliefs von Lucca fehlt gerade der Composition des Christus am Kreuz
auf empfindliche Weise.

c

An der berühmten Arca, dem Sarg des heil. Dominicus in des-
sen Kirche zu Bologna, gelten die Reliefs und die dazwischen be-
findlichen Statuetten des Sarcophages selbst als Werke des Niccolò.
In Betreff der beiden vordern Reliefs (Belebung des Knaben und Ver-
brennung der Bücher) wird man diess wohl zugeben können; die

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[564/0586] Sculpturen des Niccolò Pisano in Lucca und Pisa, verschmelzt Alles durch einen Natursinn, der wahrscheinlich eben erst durch den Anblick der Antike in ihm geweckt worden war. — Seine Arbeiten erreichen wohl bei weitem das Bessere des Alterthums nicht und können eher geschichtliche Curiosa von erstem Werthe als hohe und eigenthümliche Schöpfungen heissen. Für die Folgezeit hatten sie die grosse Bedeutung, dass durch sie die kindischen und abge- storbenen Formen der Frühern beseitigt waren, und dass der Geist des Jahrhunderts zwar nicht in antikem Gewande wie bei Niccolò selbst, aber in einer durch diesen kurzen Übergang wesentlich geläu- terten Gestalt weiter arbeiten konnte. Niccolò’s frühstes bekanntes Werk ist das Relief der Kreuz- abnahme über der linken Thür der Vorhalle des Domes von Lucca (1233). Abgesehen von den reinen Formen, welche mit den Arbeiten seiner Zeitgenossen an und zwischen den andern Portalen befremdlich contrastiren, offenbart sich der grosse Künstler durch eine höchst edle und geschickte Composition, welche die Momente der Anstrengung und des Seelenausdruckes vortrefflich vertheilt und damit ein ganz ausgebildetes Liniengefühl verbindet. a Nach langer Zwischenzeit (1260) folgt die weltberühmte Kanzel des Battistero zu Pisa. (Den Inhalt der Darstellungen s. in den Reisehandbüchern.) Die Einwirkung der römischen Vorbilder beson- ders kenntlich in einer Anzahl weiblicher Köpfe (Madonna als Juno etc.), in der Behandlung der Haare, in der Darstellung des Nackten, (wobei sich doch schon ein wesentlich neuer naturalistischer Zug ein- mischt, s. die Fortitudo); auch in der Darstellung der Thiere, z. B. der Pferdeköpfe bei der Anbetung der Könige, und der vier Löwen, auf welchen die Säulen ruhen. Dagegen ist die Gewandung mehr scharf und brüchig als bei den Alten. Im Ausdruck und in der Wahl der Motive zeigt sich viel Geist und Leben, aber das hohe Mass des Reliefs von Lucca fehlt gerade der Composition des Christus am Kreuz auf empfindliche Weise. An der berühmten Arca, dem Sarg des heil. Dominicus in des- sen Kirche zu Bologna, gelten die Reliefs und die dazwischen be- findlichen Statuetten des Sarcophages selbst als Werke des Niccolò. In Betreff der beiden vordern Reliefs (Belebung des Knaben und Ver- brennung der Bücher) wird man diess wohl zugeben können; die

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 564. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/586>, abgerufen am 16.06.2024.