In Rom sind aus dieser Zeit erhalten: Die geschnitzten hölzer-a nen Pforten von S. Sabina; Streben nach lebendigster Bewegung in äusserst befangenen Formen. (Pforte gegen das Kloster.)
In all diesen Werken kämpft das Verlangen nach deutlicher und energischer Bezeichnung des Lebens mit einer mehr oder weniger grossen Ungeschicklichkeit; auch in der Formenbildung zeigt sich noch nicht das geringste Bedenken darüber, ob zum Ausdruck des Heiligen solche Gestalten und solche (oft skurrile) Geberden auch wirklich hin- reichten. Um das Jahr 1200 stand die deutsche Kunst wie in allen Beziehungen so auch hierin hoch über der italienischen 1).
Auch die meisten Arbeiten von 1200--1250 gehen nicht weit über dieses Niveau hinaus. Als Probe ist die Kanzel in S. Bartolom-b meo zu Pistoja zu nennen, von Guido da Como 1250, mit leblos zierlichen Reliefs. -- Oder die meisten von den Sculpturen in derc Vorhalle des Domes von Lucca. -- Ungleich besser (aber vielleicht erst vom Ende des Jahrhunderts, obwohl noch vollkommen romanisch): die Reliefs mit dem Stammbaum und der Jugendgeschichte Christi, and den Pfosten des Hauptportals am Dom von Genua. Das Lunetten- relief mit dem Salvator und der Marter des heil. Laurentius ist viel geringer und auch die steinerne Arca Johannes des Täufers in dessen Altar im Dom erreicht jene Thürpfosten an Schwung, Feinheit und Leben des Reliefs nicht.
In dieser Zeit trat nun ein grosser Künstler auf, Niccolo Pi- sano, dessen Wirksamkeit allein schon genügte, um der Sculptur eine ganz neue Stellung zu geben. Sein Styl ist eine verfrühte und desshalb bald wieder erloschene Renaissance; von antiken Reliefs, hauptsächlich Sarcophagen begeistert, erweckt Niccolo die gestorbene Formenschönheit wieder vom Tode. Aus jenen Vorbildern combinirt er mit ungemeinem Takt seine heiligen Geschichten so zusammen, dass sie ein lebendiges Ganzes zu bilden scheinen, und ergänzt und
1) Erst im XIV. Jahrhundert geht jene Herabstimmung durch die deutsche Gei- sterwelt, die man in zahlreichen Äusserungen nachweisen kann, aber noch nicht in ihrem Wesen ergründet hat.
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Sculptur um 1200. Niccolò Pisano.
In Rom sind aus dieser Zeit erhalten: Die geschnitzten hölzer-a nen Pforten von S. Sabina; Streben nach lebendigster Bewegung in äusserst befangenen Formen. (Pforte gegen das Kloster.)
In all diesen Werken kämpft das Verlangen nach deutlicher und energischer Bezeichnung des Lebens mit einer mehr oder weniger grossen Ungeschicklichkeit; auch in der Formenbildung zeigt sich noch nicht das geringste Bedenken darüber, ob zum Ausdruck des Heiligen solche Gestalten und solche (oft skurrile) Geberden auch wirklich hin- reichten. Um das Jahr 1200 stand die deutsche Kunst wie in allen Beziehungen so auch hierin hoch über der italienischen 1).
Auch die meisten Arbeiten von 1200—1250 gehen nicht weit über dieses Niveau hinaus. Als Probe ist die Kanzel in S. Bartolom-b meo zu Pistoja zu nennen, von Guido da Como 1250, mit leblos zierlichen Reliefs. — Oder die meisten von den Sculpturen in derc Vorhalle des Domes von Lucca. — Ungleich besser (aber vielleicht erst vom Ende des Jahrhunderts, obwohl noch vollkommen romanisch): die Reliefs mit dem Stammbaum und der Jugendgeschichte Christi, and den Pfosten des Hauptportals am Dom von Genua. Das Lunetten- relief mit dem Salvator und der Marter des heil. Laurentius ist viel geringer und auch die steinerne Arca Johannes des Täufers in dessen Altar im Dom erreicht jene Thürpfosten an Schwung, Feinheit und Leben des Reliefs nicht.
In dieser Zeit trat nun ein grosser Künstler auf, Niccolò Pi- sano, dessen Wirksamkeit allein schon genügte, um der Sculptur eine ganz neue Stellung zu geben. Sein Styl ist eine verfrühte und desshalb bald wieder erloschene Renaissance; von antiken Reliefs, hauptsächlich Sarcophagen begeistert, erweckt Niccolò die gestorbene Formenschönheit wieder vom Tode. Aus jenen Vorbildern combinirt er mit ungemeinem Takt seine heiligen Geschichten so zusammen, dass sie ein lebendiges Ganzes zu bilden scheinen, und ergänzt und
1) Erst im XIV. Jahrhundert geht jene Herabstimmung durch die deutsche Gei- sterwelt, die man in zahlreichen Äusserungen nachweisen kann, aber noch nicht in ihrem Wesen ergründet hat.
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Sculptur um 1200. Niccolò Pisano.
In Rom sind aus dieser Zeit erhalten: Die geschnitzten hölzer-
nen Pforten von S. Sabina; Streben nach lebendigster Bewegung in
äusserst befangenen Formen. (Pforte gegen das Kloster.)
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In all diesen Werken kämpft das Verlangen nach deutlicher und
energischer Bezeichnung des Lebens mit einer mehr oder weniger
grossen Ungeschicklichkeit; auch in der Formenbildung zeigt sich noch
nicht das geringste Bedenken darüber, ob zum Ausdruck des Heiligen
solche Gestalten und solche (oft skurrile) Geberden auch wirklich hin-
reichten. Um das Jahr 1200 stand die deutsche Kunst wie in allen
Beziehungen so auch hierin hoch über der italienischen 1).
Auch die meisten Arbeiten von 1200—1250 gehen nicht weit
über dieses Niveau hinaus. Als Probe ist die Kanzel in S. Bartolom-
meo zu Pistoja zu nennen, von Guido da Como 1250, mit leblos
zierlichen Reliefs. — Oder die meisten von den Sculpturen in der
Vorhalle des Domes von Lucca. — Ungleich besser (aber vielleicht
erst vom Ende des Jahrhunderts, obwohl noch vollkommen romanisch):
die Reliefs mit dem Stammbaum und der Jugendgeschichte Christi, an
den Pfosten des Hauptportals am Dom von Genua. Das Lunetten-
relief mit dem Salvator und der Marter des heil. Laurentius ist viel
geringer und auch die steinerne Arca Johannes des Täufers in dessen
Altar im Dom erreicht jene Thürpfosten an Schwung, Feinheit und
Leben des Reliefs nicht.
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In dieser Zeit trat nun ein grosser Künstler auf, Niccolò Pi-
sano, dessen Wirksamkeit allein schon genügte, um der Sculptur
eine ganz neue Stellung zu geben. Sein Styl ist eine verfrühte und
desshalb bald wieder erloschene Renaissance; von antiken Reliefs,
hauptsächlich Sarcophagen begeistert, erweckt Niccolò die gestorbene
Formenschönheit wieder vom Tode. Aus jenen Vorbildern combinirt
er mit ungemeinem Takt seine heiligen Geschichten so zusammen,
dass sie ein lebendiges Ganzes zu bilden scheinen, und ergänzt und
1) Erst im XIV. Jahrhundert geht jene Herabstimmung durch die deutsche Gei-
sterwelt, die man in zahlreichen Äusserungen nachweisen kann, aber noch
nicht in ihrem Wesen ergründet hat.
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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/585>, abgerufen am 18.12.2024.
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