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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Laocoon. Toro Farnese.
Gipfelpunkt erreicht. Bei weiterer Betrachtung wird man inne wer-
den, wie die dramatischen Gegensätze zugleich die schönsten plasti-
schen Gegensätze sind, und wie die Ungleichheit der beiden Söhne
an Alter, Grösse und Vertheidigungskraft ausgeglichen wird durch
jene furchtbare Diagonale, welche in der Gestalt Laocoons sich aus-
drückt; die Gruppe erscheint schon als Gruppe absolut vollkommen,
obschon sie nur für die Vorderansicht bestimmt ist. Das Einzelne
der Durchführung ist dann noch der Gegenstand langen Forschens
und stets neuer Bewunderung. Sobald man sich Rechenschaft zu
geben anfängt über das Warum? aller einzelnen Motive, über den
Mischungsgrad des leiblichen und des geistigen Leidens, so eröffnen
sich, ich möchte sagen, Abgründe künstlerischer Weisheit. Das Höchste
aber ist das Ankämpfen gegen den Schmerz, welches Winckelmann
zuerst erkannt und zur Anerkennung gebracht hat. Die Mässigung im
Jammer hat keinen bloss ästhetischen, sondern einen sittlichen Grund.


Die figurenreichste Freigruppe der alten Kunst ist endlich die
des farnesischen Stieres in der danach benannten Halle desa
Museums von Neapel; ein Werk des Apollonius und Tauriscus von
Tralles, welche vielleicht der rhodischen Schule des III. oder II. Jahr-
hunderts v. Chr. angehörten. So wie sie jetzt vor uns steht, ist sie
dergestalt mit antiken und modernen Restaurationen versehen, dass
man nicht einmal für die wesentlichsten Umrisse eine sichere Bürg-
schaft hat. Der Moment wäre nach dem jetzigen Zustande der, dass
das vom Haar der Dirce ausgehende Seil dem wilden Stier schon um
das rechte Horn geschlungen ist und ihm erst um das linke ge-
schlungen werden soll, wesshalb die beiden Jünglinge (Zethus und
Amphion) das Thier an der Stirn und an der Schnauze festhalten;
die von hinten zuschauende Antiope soll (wenn man aus dem Schwei-
gen des Plinius urtheilen darf) eine spätere, römische Zuthat sein, in
welchem Fall die ganze Basis umgearbeitet sein müsste.

Von dem ursprünglichen Detail sind die erhaltenen Stücke der
beiden Brüder von sehr tüchtiger lebensvoller Arbeit; die untere Hälfte
der Dirce mit der herabgesunkenen, grossartig geworfenen Gewandung
würde den besten griechischen Resten ähnlicher Art kaum nachstehen.
Auch beim jetzigen Zustande wird man die Sonderung der Figuren,

Laocoon. Toro Farnese.
Gipfelpunkt erreicht. Bei weiterer Betrachtung wird man inne wer-
den, wie die dramatischen Gegensätze zugleich die schönsten plasti-
schen Gegensätze sind, und wie die Ungleichheit der beiden Söhne
an Alter, Grösse und Vertheidigungskraft ausgeglichen wird durch
jene furchtbare Diagonale, welche in der Gestalt Laocoons sich aus-
drückt; die Gruppe erscheint schon als Gruppe absolut vollkommen,
obschon sie nur für die Vorderansicht bestimmt ist. Das Einzelne
der Durchführung ist dann noch der Gegenstand langen Forschens
und stets neuer Bewunderung. Sobald man sich Rechenschaft zu
geben anfängt über das Warum? aller einzelnen Motive, über den
Mischungsgrad des leiblichen und des geistigen Leidens, so eröffnen
sich, ich möchte sagen, Abgründe künstlerischer Weisheit. Das Höchste
aber ist das Ankämpfen gegen den Schmerz, welches Winckelmann
zuerst erkannt und zur Anerkennung gebracht hat. Die Mässigung im
Jammer hat keinen bloss ästhetischen, sondern einen sittlichen Grund.


Die figurenreichste Freigruppe der alten Kunst ist endlich die
des farnesischen Stieres in der danach benannten Halle desa
Museums von Neapel; ein Werk des Apollonius und Tauriscus von
Tralles, welche vielleicht der rhodischen Schule des III. oder II. Jahr-
hunderts v. Chr. angehörten. So wie sie jetzt vor uns steht, ist sie
dergestalt mit antiken und modernen Restaurationen versehen, dass
man nicht einmal für die wesentlichsten Umrisse eine sichere Bürg-
schaft hat. Der Moment wäre nach dem jetzigen Zustande der, dass
das vom Haar der Dirce ausgehende Seil dem wilden Stier schon um
das rechte Horn geschlungen ist und ihm erst um das linke ge-
schlungen werden soll, wesshalb die beiden Jünglinge (Zethus und
Amphion) das Thier an der Stirn und an der Schnauze festhalten;
die von hinten zuschauende Antiope soll (wenn man aus dem Schwei-
gen des Plinius urtheilen darf) eine spätere, römische Zuthat sein, in
welchem Fall die ganze Basis umgearbeitet sein müsste.

Von dem ursprünglichen Detail sind die erhaltenen Stücke der
beiden Brüder von sehr tüchtiger lebensvoller Arbeit; die untere Hälfte
der Dirce mit der herabgesunkenen, grossartig geworfenen Gewandung
würde den besten griechischen Resten ähnlicher Art kaum nachstehen.
Auch beim jetzigen Zustande wird man die Sonderung der Figuren,

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[503/0525] Laocoon. Toro Farnese. Gipfelpunkt erreicht. Bei weiterer Betrachtung wird man inne wer- den, wie die dramatischen Gegensätze zugleich die schönsten plasti- schen Gegensätze sind, und wie die Ungleichheit der beiden Söhne an Alter, Grösse und Vertheidigungskraft ausgeglichen wird durch jene furchtbare Diagonale, welche in der Gestalt Laocoons sich aus- drückt; die Gruppe erscheint schon als Gruppe absolut vollkommen, obschon sie nur für die Vorderansicht bestimmt ist. Das Einzelne der Durchführung ist dann noch der Gegenstand langen Forschens und stets neuer Bewunderung. Sobald man sich Rechenschaft zu geben anfängt über das Warum? aller einzelnen Motive, über den Mischungsgrad des leiblichen und des geistigen Leidens, so eröffnen sich, ich möchte sagen, Abgründe künstlerischer Weisheit. Das Höchste aber ist das Ankämpfen gegen den Schmerz, welches Winckelmann zuerst erkannt und zur Anerkennung gebracht hat. Die Mässigung im Jammer hat keinen bloss ästhetischen, sondern einen sittlichen Grund. Die figurenreichste Freigruppe der alten Kunst ist endlich die des farnesischen Stieres in der danach benannten Halle des Museums von Neapel; ein Werk des Apollonius und Tauriscus von Tralles, welche vielleicht der rhodischen Schule des III. oder II. Jahr- hunderts v. Chr. angehörten. So wie sie jetzt vor uns steht, ist sie dergestalt mit antiken und modernen Restaurationen versehen, dass man nicht einmal für die wesentlichsten Umrisse eine sichere Bürg- schaft hat. Der Moment wäre nach dem jetzigen Zustande der, dass das vom Haar der Dirce ausgehende Seil dem wilden Stier schon um das rechte Horn geschlungen ist und ihm erst um das linke ge- schlungen werden soll, wesshalb die beiden Jünglinge (Zethus und Amphion) das Thier an der Stirn und an der Schnauze festhalten; die von hinten zuschauende Antiope soll (wenn man aus dem Schwei- gen des Plinius urtheilen darf) eine spätere, römische Zuthat sein, in welchem Fall die ganze Basis umgearbeitet sein müsste. a Von dem ursprünglichen Detail sind die erhaltenen Stücke der beiden Brüder von sehr tüchtiger lebensvoller Arbeit; die untere Hälfte der Dirce mit der herabgesunkenen, grossartig geworfenen Gewandung würde den besten griechischen Resten ähnlicher Art kaum nachstehen. Auch beim jetzigen Zustande wird man die Sonderung der Figuren,

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 503. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/525>, abgerufen am 18.12.2024.