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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Nereiden. Der Hermaphrodit.

Bei den nackten oder beinahe nackten Nereiden versteht es
sich von selbst, dass die Kunst sie nur heiter mädchenhaft bilden
durfte. Bedeutende Statuen sind kaum vorhanden, wohl aber reizend
gedachte (meist gering ausgeführte) Statuetten, welche diese zierlichen
Wesen auf Seewiddern reitend darstellen (Beispiele a. m. Orten). Das
einzige bedeutendere Marmorwerk, die florentinische Nereide aufa
dem Seepferd (zweiter Gang der Uffizien) lässt trotz Verstümmlung
und Restauration ein so reizendes Motiv erkennen, dass man in dieser
römischen Brunnenfigur die Nachahmung einer Gestalt des Skopas zu
finden glaubt.


Als die antike Kunst, wahrscheinlich in der praxitelischen Zeit,
nach immer wirksamern Ausdrucksweisen des Schönen suchte, gerieth
sie auf die Schöpfung des Hermaphroditen, wobei ihr ein schon
vorhandener Mythus entgegen kam. Es war aber bei dieser Aufgabe
kein rechtes Gedeihen. Man konnte den Dionysos der weichen Weib-
lichkeit, die Amazone der männlichen Heldengestalt sehr nähern und
dabei den strengsten Gesetzen der Schönheit in vollstem Mass genügen;
es fand dabei eine echte Durchdringung dessen statt, was am Manne
und was am Weibe schön dargestellt werden kann. Hier dagegen
werden auch die äusserlichen Kennzeichen der Geschlechter in Einer
Gestalt vereinigt, als ob die Schönheit in diesen läge und sich nun
doppelt mächtig aussprechen müsste. Man vergass dabei, dass alles
Monströse schon a priori die geniessende Stimmung zerstört, indem es
wenn auch nicht den Abscheu, so doch Unruhe und Neugier an deren
Stelle setzt; dass ferner das Schöne nur an bestimmten Charakteren
und nur im Verhältniss zu denselben vorhanden und denkbar ist und
bei willkürlichen Mischungen zerfliesst 1). Es geschah nun zwar das
Mögliche, um über die Formen dieses Wesens den grössten sinnlichen

1) Centauren, Tritonen, Seepferde etc. sind nicht monströs, nicht nur weil der
mythische Glaube die Evidenz ersetzt und die Spannung beseitigt -- was
sich auch beim Hermaphroditen behaupten liesse -- sondern weil sie keinen
Anspruch darauf machen, streng organische Wesen zu sein. Sie sind sym-
bolisch kühn gemischt, aber nicht aus widersprechenden Charakteren in Eins
geschmolzen.
Nereiden. Der Hermaphrodit.

Bei den nackten oder beinahe nackten Nereiden versteht es
sich von selbst, dass die Kunst sie nur heiter mädchenhaft bilden
durfte. Bedeutende Statuen sind kaum vorhanden, wohl aber reizend
gedachte (meist gering ausgeführte) Statuetten, welche diese zierlichen
Wesen auf Seewiddern reitend darstellen (Beispiele a. m. Orten). Das
einzige bedeutendere Marmorwerk, die florentinische Nereide aufa
dem Seepferd (zweiter Gang der Uffizien) lässt trotz Verstümmlung
und Restauration ein so reizendes Motiv erkennen, dass man in dieser
römischen Brunnenfigur die Nachahmung einer Gestalt des Skopas zu
finden glaubt.


Als die antike Kunst, wahrscheinlich in der praxitelischen Zeit,
nach immer wirksamern Ausdrucksweisen des Schönen suchte, gerieth
sie auf die Schöpfung des Hermaphroditen, wobei ihr ein schon
vorhandener Mythus entgegen kam. Es war aber bei dieser Aufgabe
kein rechtes Gedeihen. Man konnte den Dionysos der weichen Weib-
lichkeit, die Amazone der männlichen Heldengestalt sehr nähern und
dabei den strengsten Gesetzen der Schönheit in vollstem Mass genügen;
es fand dabei eine echte Durchdringung dessen statt, was am Manne
und was am Weibe schön dargestellt werden kann. Hier dagegen
werden auch die äusserlichen Kennzeichen der Geschlechter in Einer
Gestalt vereinigt, als ob die Schönheit in diesen läge und sich nun
doppelt mächtig aussprechen müsste. Man vergass dabei, dass alles
Monströse schon a priori die geniessende Stimmung zerstört, indem es
wenn auch nicht den Abscheu, so doch Unruhe und Neugier an deren
Stelle setzt; dass ferner das Schöne nur an bestimmten Charakteren
und nur im Verhältniss zu denselben vorhanden und denkbar ist und
bei willkürlichen Mischungen zerfliesst 1). Es geschah nun zwar das
Mögliche, um über die Formen dieses Wesens den grössten sinnlichen

1) Centauren, Tritonen, Seepferde etc. sind nicht monströs, nicht nur weil der
mythische Glaube die Evidenz ersetzt und die Spannung beseitigt — was
sich auch beim Hermaphroditen behaupten liesse — sondern weil sie keinen
Anspruch darauf machen, streng organische Wesen zu sein. Sie sind sym-
bolisch kühn gemischt, aber nicht aus widersprechenden Charakteren in Eins
geschmolzen.
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[485/0507] Nereiden. Der Hermaphrodit. Bei den nackten oder beinahe nackten Nereiden versteht es sich von selbst, dass die Kunst sie nur heiter mädchenhaft bilden durfte. Bedeutende Statuen sind kaum vorhanden, wohl aber reizend gedachte (meist gering ausgeführte) Statuetten, welche diese zierlichen Wesen auf Seewiddern reitend darstellen (Beispiele a. m. Orten). Das einzige bedeutendere Marmorwerk, die florentinische Nereide auf dem Seepferd (zweiter Gang der Uffizien) lässt trotz Verstümmlung und Restauration ein so reizendes Motiv erkennen, dass man in dieser römischen Brunnenfigur die Nachahmung einer Gestalt des Skopas zu finden glaubt. a Als die antike Kunst, wahrscheinlich in der praxitelischen Zeit, nach immer wirksamern Ausdrucksweisen des Schönen suchte, gerieth sie auf die Schöpfung des Hermaphroditen, wobei ihr ein schon vorhandener Mythus entgegen kam. Es war aber bei dieser Aufgabe kein rechtes Gedeihen. Man konnte den Dionysos der weichen Weib- lichkeit, die Amazone der männlichen Heldengestalt sehr nähern und dabei den strengsten Gesetzen der Schönheit in vollstem Mass genügen; es fand dabei eine echte Durchdringung dessen statt, was am Manne und was am Weibe schön dargestellt werden kann. Hier dagegen werden auch die äusserlichen Kennzeichen der Geschlechter in Einer Gestalt vereinigt, als ob die Schönheit in diesen läge und sich nun doppelt mächtig aussprechen müsste. Man vergass dabei, dass alles Monströse schon a priori die geniessende Stimmung zerstört, indem es wenn auch nicht den Abscheu, so doch Unruhe und Neugier an deren Stelle setzt; dass ferner das Schöne nur an bestimmten Charakteren und nur im Verhältniss zu denselben vorhanden und denkbar ist und bei willkürlichen Mischungen zerfliesst 1). Es geschah nun zwar das Mögliche, um über die Formen dieses Wesens den grössten sinnlichen 1) Centauren, Tritonen, Seepferde etc. sind nicht monströs, nicht nur weil der mythische Glaube die Evidenz ersetzt und die Spannung beseitigt — was sich auch beim Hermaphroditen behaupten liesse — sondern weil sie keinen Anspruch darauf machen, streng organische Wesen zu sein. Sie sind sym- bolisch kühn gemischt, aber nicht aus widersprechenden Charakteren in Eins geschmolzen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/507>, abgerufen am 02.06.2024.