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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Aphrodite. Die Mediceische. Spätere Motive.
und kein Salbgefäss mehr beigegeben; die Kunst wagt es, die Göttin
nackt zu bilden um ihrer blossen Schönheit willen, ohne Bezug auf
das Bad. Der unumgängliche Tronco ist hier als Delphin gebildet,
weniger um auf die Geburt der Venus aus dem Meere anzuspielen,
als um den weichen Linien dieses Körpers etwas Analoges zur Be-
gleitung anzufügen. Ob nun die Statue selbst das höchste denkbare
Ideal weiblicher Schönheit darstelle -- diess wird je nach dem Ge-
schmack bejaht oder bestritten werden. Sehr verglättet und mit af-
fektirt hergestellten Armen und Händen, gestattet sie überhaupt kein
unbedingtes Urtheil mehr; selbst am Kopf möchte das Kinngrübchen
von moderner Hand verstärkt sein; zudem fehlt die ehemalige Ver-
goldung der Haare und das Ohrgehänge, nebst der farbigen Füllung
der Augen. Für all Das, was übrig bleibt, wollen wir den Beschauer
nicht weiter in einem der grössten Genüsse stören, die Italien bie-
ten kann.

(Die Attitude, bald in mehr mädchenhaften, bald in frauenhaften
Formen ausgedrückt, wurde eine der beliebtesten. Eine grosse Menge
von Wiederholungen, in der Regel nicht mehr als Decorationsfiguren,
finden sich überall. Zwei überlebensgrosse z. B., die eine mit dema
zur Stütze dienenden Gewand hinten herum, stehen im ersten Gang
der Uffizien und gewähren mit ihren leeren Formen einen interessan-
ten Vergleich, wenn man sich von der Vortrefflichkeit der mediceischen
überzeugen will.)

Dieser Typus erst eignete sich zur Verarbeitung in eine Anzahl
herrlicher Stellungen; die Göttin musste sich von dem Cultusbild
möglichst weit entfernen und ganz zum schönen Mädchen werden, da-
mit die Kunst völlig frei damit walten konnte. In den bessern Fäl-
len aber bleibt sie Aphrodite und über alles Genrehafte weit erhaben.

Wir nennen hier zuerst die kauernde Venus (Venus accrou-b
pie), deren schönstes Exemplar (Vatican, gabinetto delle maschere)
den Namen Bupalos trägt. (Nicht derjenige des VI. Jahrhunderts v.
Chr., sondern jedenfalls ein weit späterer dieses Namens.) Es ist nicht
eine aus dem Meer aufsteigende, sondern eine im Bad sich waschende;
die Basis trägt noch in ihren alten Theilen die Andeutung der Wellen,
auf welchen die Göttin ruht -- denn nie hätte die griechische Kunst
einer gemein-wirklichen Illusion zu Liebe irgend einen Theil der Kör-

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Aphrodite. Die Mediceische. Spätere Motive.
und kein Salbgefäss mehr beigegeben; die Kunst wagt es, die Göttin
nackt zu bilden um ihrer blossen Schönheit willen, ohne Bezug auf
das Bad. Der unumgängliche Tronco ist hier als Delphin gebildet,
weniger um auf die Geburt der Venus aus dem Meere anzuspielen,
als um den weichen Linien dieses Körpers etwas Analoges zur Be-
gleitung anzufügen. Ob nun die Statue selbst das höchste denkbare
Ideal weiblicher Schönheit darstelle — diess wird je nach dem Ge-
schmack bejaht oder bestritten werden. Sehr verglättet und mit af-
fektirt hergestellten Armen und Händen, gestattet sie überhaupt kein
unbedingtes Urtheil mehr; selbst am Kopf möchte das Kinngrübchen
von moderner Hand verstärkt sein; zudem fehlt die ehemalige Ver-
goldung der Haare und das Ohrgehänge, nebst der farbigen Füllung
der Augen. Für all Das, was übrig bleibt, wollen wir den Beschauer
nicht weiter in einem der grössten Genüsse stören, die Italien bie-
ten kann.

(Die Attitude, bald in mehr mädchenhaften, bald in frauenhaften
Formen ausgedrückt, wurde eine der beliebtesten. Eine grosse Menge
von Wiederholungen, in der Regel nicht mehr als Decorationsfiguren,
finden sich überall. Zwei überlebensgrosse z. B., die eine mit dema
zur Stütze dienenden Gewand hinten herum, stehen im ersten Gang
der Uffizien und gewähren mit ihren leeren Formen einen interessan-
ten Vergleich, wenn man sich von der Vortrefflichkeit der mediceischen
überzeugen will.)

Dieser Typus erst eignete sich zur Verarbeitung in eine Anzahl
herrlicher Stellungen; die Göttin musste sich von dem Cultusbild
möglichst weit entfernen und ganz zum schönen Mädchen werden, da-
mit die Kunst völlig frei damit walten konnte. In den bessern Fäl-
len aber bleibt sie Aphrodite und über alles Genrehafte weit erhaben.

Wir nennen hier zuerst die kauernde Venus (Vénus accrou-b
pie), deren schönstes Exemplar (Vatican, gabinetto delle maschere)
den Namen Bupalos trägt. (Nicht derjenige des VI. Jahrhunderts v.
Chr., sondern jedenfalls ein weit späterer dieses Namens.) Es ist nicht
eine aus dem Meer aufsteigende, sondern eine im Bad sich waschende;
die Basis trägt noch in ihren alten Theilen die Andeutung der Wellen,
auf welchen die Göttin ruht — denn nie hätte die griechische Kunst
einer gemein-wirklichen Illusion zu Liebe irgend einen Theil der Kör-

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[451/0473] Aphrodite. Die Mediceische. Spätere Motive. und kein Salbgefäss mehr beigegeben; die Kunst wagt es, die Göttin nackt zu bilden um ihrer blossen Schönheit willen, ohne Bezug auf das Bad. Der unumgängliche Tronco ist hier als Delphin gebildet, weniger um auf die Geburt der Venus aus dem Meere anzuspielen, als um den weichen Linien dieses Körpers etwas Analoges zur Be- gleitung anzufügen. Ob nun die Statue selbst das höchste denkbare Ideal weiblicher Schönheit darstelle — diess wird je nach dem Ge- schmack bejaht oder bestritten werden. Sehr verglättet und mit af- fektirt hergestellten Armen und Händen, gestattet sie überhaupt kein unbedingtes Urtheil mehr; selbst am Kopf möchte das Kinngrübchen von moderner Hand verstärkt sein; zudem fehlt die ehemalige Ver- goldung der Haare und das Ohrgehänge, nebst der farbigen Füllung der Augen. Für all Das, was übrig bleibt, wollen wir den Beschauer nicht weiter in einem der grössten Genüsse stören, die Italien bie- ten kann. (Die Attitude, bald in mehr mädchenhaften, bald in frauenhaften Formen ausgedrückt, wurde eine der beliebtesten. Eine grosse Menge von Wiederholungen, in der Regel nicht mehr als Decorationsfiguren, finden sich überall. Zwei überlebensgrosse z. B., die eine mit dem zur Stütze dienenden Gewand hinten herum, stehen im ersten Gang der Uffizien und gewähren mit ihren leeren Formen einen interessan- ten Vergleich, wenn man sich von der Vortrefflichkeit der mediceischen überzeugen will.) a Dieser Typus erst eignete sich zur Verarbeitung in eine Anzahl herrlicher Stellungen; die Göttin musste sich von dem Cultusbild möglichst weit entfernen und ganz zum schönen Mädchen werden, da- mit die Kunst völlig frei damit walten konnte. In den bessern Fäl- len aber bleibt sie Aphrodite und über alles Genrehafte weit erhaben. Wir nennen hier zuerst die kauernde Venus (Vénus accrou- pie), deren schönstes Exemplar (Vatican, gabinetto delle maschere) den Namen Bupalos trägt. (Nicht derjenige des VI. Jahrhunderts v. Chr., sondern jedenfalls ein weit späterer dieses Namens.) Es ist nicht eine aus dem Meer aufsteigende, sondern eine im Bad sich waschende; die Basis trägt noch in ihren alten Theilen die Andeutung der Wellen, auf welchen die Göttin ruht — denn nie hätte die griechische Kunst einer gemein-wirklichen Illusion zu Liebe irgend einen Theil der Kör- b 29*

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/473>, abgerufen am 26.06.2024.