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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Hermes.
ist darob etwas eingesunken; allein sein Blick sagt, dass er noch
lauert und seine ganze leichte Stellung und der Bau seiner Glieder
lässt ahnen, mit welcher Elasticität er aufspringen wird. Die Kunst
wird keine sitzende nackte Jünglingsfigur mehr schaffen, ohne dieses
Erzbild wenigstens mit einem Blick zu Rathe zu ziehen. Ist es aber
wirklich Hermes? Was er an den Füssen angeschnallt hat, sind keine
Sandalen, sondern Flügel, die ihm also nicht von Hause aus angehören;
sodann hat sein Kopf wohl den Hermestypus, aber auf einer niedri-
gern Stufe, und vollends geben ihm die abstehenden Ohren etwas
Genrehaftes. Vielleicht haben wir irgend einen unbekannten Mythus
oder auch nur einen unergründlichen Scherz vor uns.

a

In den Uffizien zu Florenz kann eine ausgezeichnet wohlerhaltene
römische Statue (im ersten Gang) gerade zum Beleg des Gesagten
dienen, insofern hier die Flügel unmittelbar über dem Knöchel aus
dem Fuss herauswachsen. Von viel grösserer Bedeutung ist der leider
bsehr stark und zwar als Apoll restaurirte sitzende Hermes im zweiten
Gange. Der Gott ist sehr jugendlich, etwa fünfzehnjährig gedacht,
aber in grösserm Verhältniss ausgeführt, sodass man ihn in seinem
verstümmelten Zustande leicht verkennen konnte, indem seine spätere
gymnastische Bildung hier nur leise angedeutet ist. Ein Blick auf den
ebenso jugendlichen Apoll, etwa den Sauroktonos, zeigt freilich den
gründlichen Unterschied; hier wollen alle Formen nur das leichteste
Dasein ausdrücken, während im Hermes die Rüstigkeit und Elasticität
ein wesentlicher Zug ist, selbst wo er ruht wie hier. (Schöne römische
Arbeit; in der Nähe eine ähnliche, viel geringere Statue mit dem echten
Hermeskopfe; die Lyra, deren Erfinder Hermes war, ist hier antik.)
c-- Noch knabenhafter und fast genreartig ist Hermes dargestellt in
einer Statue der Inschriftenhalle ebenda, einem guten römischen Werke.
Er steht auf einen Stamm gelehnt; im ursprünglichen Zustande hielt
er etwas mit der rechten Hand, auf die seine Blicke gerichtet sind.
d-- Ob der gute römische Torso von Basalt (in der Halle des Her-
maphr. ebenda) einen Hermes oder einer Satyr vorstellte, ist schwer
zu entscheiden.


Vom Geschlecht des Hermes als Schützers der Ringschulen sind alle
Athleten griechischer Erfindung. Man erwarte hier nicht den zum

Antike Sculptur. Hermes.
ist darob etwas eingesunken; allein sein Blick sagt, dass er noch
lauert und seine ganze leichte Stellung und der Bau seiner Glieder
lässt ahnen, mit welcher Elasticität er aufspringen wird. Die Kunst
wird keine sitzende nackte Jünglingsfigur mehr schaffen, ohne dieses
Erzbild wenigstens mit einem Blick zu Rathe zu ziehen. Ist es aber
wirklich Hermes? Was er an den Füssen angeschnallt hat, sind keine
Sandalen, sondern Flügel, die ihm also nicht von Hause aus angehören;
sodann hat sein Kopf wohl den Hermestypus, aber auf einer niedri-
gern Stufe, und vollends geben ihm die abstehenden Ohren etwas
Genrehaftes. Vielleicht haben wir irgend einen unbekannten Mythus
oder auch nur einen unergründlichen Scherz vor uns.

a

In den Uffizien zu Florenz kann eine ausgezeichnet wohlerhaltene
römische Statue (im ersten Gang) gerade zum Beleg des Gesagten
dienen, insofern hier die Flügel unmittelbar über dem Knöchel aus
dem Fuss herauswachsen. Von viel grösserer Bedeutung ist der leider
bsehr stark und zwar als Apoll restaurirte sitzende Hermes im zweiten
Gange. Der Gott ist sehr jugendlich, etwa fünfzehnjährig gedacht,
aber in grösserm Verhältniss ausgeführt, sodass man ihn in seinem
verstümmelten Zustande leicht verkennen konnte, indem seine spätere
gymnastische Bildung hier nur leise angedeutet ist. Ein Blick auf den
ebenso jugendlichen Apoll, etwa den Sauroktonos, zeigt freilich den
gründlichen Unterschied; hier wollen alle Formen nur das leichteste
Dasein ausdrücken, während im Hermes die Rüstigkeit und Elasticität
ein wesentlicher Zug ist, selbst wo er ruht wie hier. (Schöne römische
Arbeit; in der Nähe eine ähnliche, viel geringere Statue mit dem echten
Hermeskopfe; die Lyra, deren Erfinder Hermes war, ist hier antik.)
c— Noch knabenhafter und fast genreartig ist Hermes dargestellt in
einer Statue der Inschriftenhalle ebenda, einem guten römischen Werke.
Er steht auf einen Stamm gelehnt; im ursprünglichen Zustande hielt
er etwas mit der rechten Hand, auf die seine Blicke gerichtet sind.
d— Ob der gute römische Torso von Basalt (in der Halle des Her-
maphr. ebenda) einen Hermes oder einer Satyr vorstellte, ist schwer
zu entscheiden.


Vom Geschlecht des Hermes als Schützers der Ringschulen sind alle
Athleten griechischer Erfindung. Man erwarte hier nicht den zum

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[432/0454] Antike Sculptur. Hermes. ist darob etwas eingesunken; allein sein Blick sagt, dass er noch lauert und seine ganze leichte Stellung und der Bau seiner Glieder lässt ahnen, mit welcher Elasticität er aufspringen wird. Die Kunst wird keine sitzende nackte Jünglingsfigur mehr schaffen, ohne dieses Erzbild wenigstens mit einem Blick zu Rathe zu ziehen. Ist es aber wirklich Hermes? Was er an den Füssen angeschnallt hat, sind keine Sandalen, sondern Flügel, die ihm also nicht von Hause aus angehören; sodann hat sein Kopf wohl den Hermestypus, aber auf einer niedri- gern Stufe, und vollends geben ihm die abstehenden Ohren etwas Genrehaftes. Vielleicht haben wir irgend einen unbekannten Mythus oder auch nur einen unergründlichen Scherz vor uns. In den Uffizien zu Florenz kann eine ausgezeichnet wohlerhaltene römische Statue (im ersten Gang) gerade zum Beleg des Gesagten dienen, insofern hier die Flügel unmittelbar über dem Knöchel aus dem Fuss herauswachsen. Von viel grösserer Bedeutung ist der leider sehr stark und zwar als Apoll restaurirte sitzende Hermes im zweiten Gange. Der Gott ist sehr jugendlich, etwa fünfzehnjährig gedacht, aber in grösserm Verhältniss ausgeführt, sodass man ihn in seinem verstümmelten Zustande leicht verkennen konnte, indem seine spätere gymnastische Bildung hier nur leise angedeutet ist. Ein Blick auf den ebenso jugendlichen Apoll, etwa den Sauroktonos, zeigt freilich den gründlichen Unterschied; hier wollen alle Formen nur das leichteste Dasein ausdrücken, während im Hermes die Rüstigkeit und Elasticität ein wesentlicher Zug ist, selbst wo er ruht wie hier. (Schöne römische Arbeit; in der Nähe eine ähnliche, viel geringere Statue mit dem echten Hermeskopfe; die Lyra, deren Erfinder Hermes war, ist hier antik.) — Noch knabenhafter und fast genreartig ist Hermes dargestellt in einer Statue der Inschriftenhalle ebenda, einem guten römischen Werke. Er steht auf einen Stamm gelehnt; im ursprünglichen Zustande hielt er etwas mit der rechten Hand, auf die seine Blicke gerichtet sind. — Ob der gute römische Torso von Basalt (in der Halle des Her- maphr. ebenda) einen Hermes oder einer Satyr vorstellte, ist schwer zu entscheiden. b c d Vom Geschlecht des Hermes als Schützers der Ringschulen sind alle Athleten griechischer Erfindung. Man erwarte hier nicht den zum

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/454>, abgerufen am 26.06.2024.