Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

Hermes.
der, die leichte, ruhige Stellung diess vernehmlich ausdrücken. Allein
in der ganzen Gestalt waltet ein wahrhaft göttlicher Sinn, der sie
über jene Einzelbedeutung weit emporhebt. Sie hat, ich möchte
sagen, ein höheres, zeitloseres Dasein als alle menschlichen Athleten,
in welchen die Wirkung der letztvorhergegangenen, die Erwartung
der nächsten Anstrengung mit angedeutet scheint. Und welch ein
wunderbares Haupt! es ist nicht bloss der freundlich-sanfte, feine
Hermes, sondern wahrhaftig der, welcher "den obern und den untern
Göttern werth" ist, der Mittler der beiden Welten. Darum liegt auf
diesem Jünglingsantlitz ein Schatten von Trauer, wie es dem unsterb-
lichen Todtenführer zukömmt, der so viel Leben untergehen sieht.
Die süsse, jugendliche Melancholie, welche im Antinous zweideutig
gemischt waltet, ist hier mit vollkommener Reinheit ausgedrückt.

Die Statue ist stark verstümmelt, geglättet und zweifelhaft re-
staurirt. Möge sie wenigstens fortan bleiben wie sie ist. (Eine viela
geringere Wiederholung im grossen Saal des Pal. Farnese.)

Noch mancher treffliche Hermes steht in den römischen Galerien,
allein keiner der diesem irgend nahe käme. Zur Vergleichung diene
z. B. der Hermes mit der Inschrift INGENVI (Vatican, Galeria delleb
statue), und derjenige des Braccio nuovo, gute römische Arbeiten.c
Im letztgenannten Theile des Vaticans stehen (hinten) auch zwei be-
mäntelte Hermen, deren Köpfe wirklich Hermes vorstellen. -- Im
grossen Saal des capitolinischen Museums glaubt man in der Statued
eines vorgebeugten Jünglings, welcher (in der jetzigen Restauration)
den Zeigefinger der Rechten wie horchend erhebt, und den linken
Fuss auf ein Felsstück setzt, einen Hermes zu erkennen. Es ist ein
stattliches, lebensvolles Werk, etwa aus hadrianischer Zeit. -- Ein
römischer Hermes, wenigstens mit einem Nachklang jener schönene
Trauer, im Hauptsaal der Villa Ludovisi.

Im Museum von Neapel, Abtheilung der grossen Bronzen, bietenf
zunächst zwei Köpfe eine interessante Parallele dar. Der eine, alter-
thümlich streng, mit einer Reihe von Löckchen wie Korkzieher, zeigt
uns den kalten conventionellen Ausdruck des frühern griechischen
Typus, während der andere sich der seelenvollen Schönheit des vati-
canischen Gottes nähert. Dann findet sich hier die unvergleichlicheg
Statue des angelnden Hermes. Er hat schon lange gesessen und

Hermes.
der, die leichte, ruhige Stellung diess vernehmlich ausdrücken. Allein
in der ganzen Gestalt waltet ein wahrhaft göttlicher Sinn, der sie
über jene Einzelbedeutung weit emporhebt. Sie hat, ich möchte
sagen, ein höheres, zeitloseres Dasein als alle menschlichen Athleten,
in welchen die Wirkung der letztvorhergegangenen, die Erwartung
der nächsten Anstrengung mit angedeutet scheint. Und welch ein
wunderbares Haupt! es ist nicht bloss der freundlich-sanfte, feine
Hermes, sondern wahrhaftig der, welcher „den obern und den untern
Göttern werth“ ist, der Mittler der beiden Welten. Darum liegt auf
diesem Jünglingsantlitz ein Schatten von Trauer, wie es dem unsterb-
lichen Todtenführer zukömmt, der so viel Leben untergehen sieht.
Die süsse, jugendliche Melancholie, welche im Antinous zweideutig
gemischt waltet, ist hier mit vollkommener Reinheit ausgedrückt.

Die Statue ist stark verstümmelt, geglättet und zweifelhaft re-
staurirt. Möge sie wenigstens fortan bleiben wie sie ist. (Eine viela
geringere Wiederholung im grossen Saal des Pal. Farnese.)

Noch mancher treffliche Hermes steht in den römischen Galerien,
allein keiner der diesem irgend nahe käme. Zur Vergleichung diene
z. B. der Hermes mit der Inschrift INGENVI (Vatican, Galeria delleb
statue), und derjenige des Braccio nuovo, gute römische Arbeiten.c
Im letztgenannten Theile des Vaticans stehen (hinten) auch zwei be-
mäntelte Hermen, deren Köpfe wirklich Hermes vorstellen. — Im
grossen Saal des capitolinischen Museums glaubt man in der Statued
eines vorgebeugten Jünglings, welcher (in der jetzigen Restauration)
den Zeigefinger der Rechten wie horchend erhebt, und den linken
Fuss auf ein Felsstück setzt, einen Hermes zu erkennen. Es ist ein
stattliches, lebensvolles Werk, etwa aus hadrianischer Zeit. — Ein
römischer Hermes, wenigstens mit einem Nachklang jener schönene
Trauer, im Hauptsaal der Villa Ludovisi.

Im Museum von Neapel, Abtheilung der grossen Bronzen, bietenf
zunächst zwei Köpfe eine interessante Parallele dar. Der eine, alter-
thümlich streng, mit einer Reihe von Löckchen wie Korkzieher, zeigt
uns den kalten conventionellen Ausdruck des frühern griechischen
Typus, während der andere sich der seelenvollen Schönheit des vati-
canischen Gottes nähert. Dann findet sich hier die unvergleichlicheg
Statue des angelnden Hermes. Er hat schon lange gesessen und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0453" n="431"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Hermes.</hi></fw><lb/>
der, die leichte, ruhige Stellung diess vernehmlich ausdrücken. Allein<lb/>
in der ganzen Gestalt waltet ein wahrhaft göttlicher Sinn, der sie<lb/>
über jene Einzelbedeutung weit emporhebt. Sie hat, ich möchte<lb/>
sagen, ein höheres, zeitloseres Dasein als alle menschlichen Athleten,<lb/>
in welchen die Wirkung der letztvorhergegangenen, die Erwartung<lb/>
der nächsten Anstrengung mit angedeutet scheint. Und welch ein<lb/>
wunderbares Haupt! es ist nicht bloss der freundlich-sanfte, feine<lb/>
Hermes, sondern wahrhaftig der, welcher &#x201E;den obern und den untern<lb/>
Göttern werth&#x201C; ist, der Mittler der beiden Welten. Darum liegt auf<lb/>
diesem Jünglingsantlitz ein Schatten von Trauer, wie es dem unsterb-<lb/>
lichen Todtenführer zukömmt, der so viel Leben untergehen sieht.<lb/>
Die süsse, jugendliche Melancholie, welche im Antinous zweideutig<lb/>
gemischt waltet, ist hier mit vollkommener Reinheit ausgedrückt.</p><lb/>
        <p>Die Statue ist stark verstümmelt, geglättet und zweifelhaft re-<lb/>
staurirt. Möge sie wenigstens fortan bleiben wie sie ist. (Eine viel<note place="right">a</note><lb/>
geringere Wiederholung im grossen Saal des Pal. Farnese.)</p><lb/>
        <p>Noch mancher treffliche Hermes steht in den römischen Galerien,<lb/>
allein keiner der diesem irgend nahe käme. Zur Vergleichung diene<lb/>
z. B. der Hermes mit der Inschrift INGENVI (Vatican, Galeria delle<note place="right">b</note><lb/>
statue), und derjenige des Braccio nuovo, gute römische Arbeiten.<note place="right">c</note><lb/>
Im letztgenannten Theile des Vaticans stehen (hinten) auch zwei be-<lb/>
mäntelte Hermen, deren Köpfe wirklich Hermes vorstellen. &#x2014; Im<lb/>
grossen Saal des capitolinischen Museums glaubt man in der Statue<note place="right">d</note><lb/>
eines vorgebeugten Jünglings, welcher (in der jetzigen Restauration)<lb/>
den Zeigefinger der Rechten wie horchend erhebt, und den linken<lb/>
Fuss auf ein Felsstück setzt, einen Hermes zu erkennen. Es ist ein<lb/>
stattliches, lebensvolles Werk, etwa aus hadrianischer Zeit. &#x2014; Ein<lb/>
römischer Hermes, wenigstens mit einem Nachklang jener schönen<note place="right">e</note><lb/>
Trauer, im Hauptsaal der Villa Ludovisi.</p><lb/>
        <p>Im Museum von Neapel, Abtheilung der grossen Bronzen, bieten<note place="right">f</note><lb/>
zunächst zwei Köpfe eine interessante Parallele dar. Der eine, alter-<lb/>
thümlich streng, mit einer Reihe von Löckchen wie Korkzieher, zeigt<lb/>
uns den kalten conventionellen Ausdruck des frühern griechischen<lb/>
Typus, während der andere sich der seelenvollen Schönheit des vati-<lb/>
canischen Gottes nähert. Dann findet sich hier die unvergleichliche<note place="right">g</note><lb/>
Statue des <hi rendition="#g">angelnden Hermes</hi>. Er hat schon lange gesessen und<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[431/0453] Hermes. der, die leichte, ruhige Stellung diess vernehmlich ausdrücken. Allein in der ganzen Gestalt waltet ein wahrhaft göttlicher Sinn, der sie über jene Einzelbedeutung weit emporhebt. Sie hat, ich möchte sagen, ein höheres, zeitloseres Dasein als alle menschlichen Athleten, in welchen die Wirkung der letztvorhergegangenen, die Erwartung der nächsten Anstrengung mit angedeutet scheint. Und welch ein wunderbares Haupt! es ist nicht bloss der freundlich-sanfte, feine Hermes, sondern wahrhaftig der, welcher „den obern und den untern Göttern werth“ ist, der Mittler der beiden Welten. Darum liegt auf diesem Jünglingsantlitz ein Schatten von Trauer, wie es dem unsterb- lichen Todtenführer zukömmt, der so viel Leben untergehen sieht. Die süsse, jugendliche Melancholie, welche im Antinous zweideutig gemischt waltet, ist hier mit vollkommener Reinheit ausgedrückt. Die Statue ist stark verstümmelt, geglättet und zweifelhaft re- staurirt. Möge sie wenigstens fortan bleiben wie sie ist. (Eine viel geringere Wiederholung im grossen Saal des Pal. Farnese.) a Noch mancher treffliche Hermes steht in den römischen Galerien, allein keiner der diesem irgend nahe käme. Zur Vergleichung diene z. B. der Hermes mit der Inschrift INGENVI (Vatican, Galeria delle statue), und derjenige des Braccio nuovo, gute römische Arbeiten. Im letztgenannten Theile des Vaticans stehen (hinten) auch zwei be- mäntelte Hermen, deren Köpfe wirklich Hermes vorstellen. — Im grossen Saal des capitolinischen Museums glaubt man in der Statue eines vorgebeugten Jünglings, welcher (in der jetzigen Restauration) den Zeigefinger der Rechten wie horchend erhebt, und den linken Fuss auf ein Felsstück setzt, einen Hermes zu erkennen. Es ist ein stattliches, lebensvolles Werk, etwa aus hadrianischer Zeit. — Ein römischer Hermes, wenigstens mit einem Nachklang jener schönen Trauer, im Hauptsaal der Villa Ludovisi. b c d e Im Museum von Neapel, Abtheilung der grossen Bronzen, bieten zunächst zwei Köpfe eine interessante Parallele dar. Der eine, alter- thümlich streng, mit einer Reihe von Löckchen wie Korkzieher, zeigt uns den kalten conventionellen Ausdruck des frühern griechischen Typus, während der andere sich der seelenvollen Schönheit des vati- canischen Gottes nähert. Dann findet sich hier die unvergleichliche Statue des angelnden Hermes. Er hat schon lange gesessen und f g

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/453
Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/453>, abgerufen am 29.06.2024.