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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Antike Sculptur. Hera.
a

Die beiden Dioskuren der Capitolstreppe, sonderbar bedingte
Werke 1) aus noch ziemlich guter Zeit, scheinen ganz geschaffen, um
den Werth der quirinalischen ins hellste Licht zu stellen.


Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus bedurfte einer
entsprechend grossartigen Persönlichkeit, in welcher die Königin der
Götter zu erkennen sein sollte. Die reife Schönheit eines mächtigen
Weibes ist denn auch nie bedeutender dargestellt worden, als in die-
sem Typus, der doch zugleich eine unbegreifliche Jugendlichkeit aus-
spricht. Die Statuen sind meist spät, verrathen aber ein herrliches
bVorbild, wie z. B. die colossale in der Sala rotonda des Vaticans.
c(Kleineres Ex. in der Villa Borghese, Zimmer der Juno; ein anderes
din der Galeria delle Statue des Vaticans; noch ein anderes, mit mo-
edernem Kopf, im Museum von Neapel, Halle der Flora.) Das nasse
Anliegen des feinen Untergewandes ist bisweilen allzu absichtlich dazu
benützt, die bedeutenden Formen des Oberleibes hervortreten zu lassen;
sonst aber wird die milde Majestät des bediademten Hauptes und die
imposante Stellung, womit der Körper sich nach der Rechten ausladet,
immer die Herrscherin auf das Deutlichste erkennen lassen.

Eine eigene Aufgabe gewährte dem römischen Bildhauer die Juno
fLanuvina. (Colossalstatue ebenfalls in der Sala rotonda des Vaticans.)
Als Schützerin der Heerden hat sie Haupt und Leib mit einem Thier-
fell bedeckt; mit dem (restaurirten) Speer in der Hand schreitet sie
zu gewaltiger Abwehr aus. Ohne Zweifel hat der Bildner ein uraltes
Tempelbild von Lanuvium in dem Styl griechisch-römischer Zeit re-
produciren müssen; die Züge aber sind junonisch.

Diese göttlichen Züge lernt man nun weit besser als aus irgend
einer Statue, aus zwei berühmten Colossalköpfen kennen. Der eine,
gdie Juno im Hauptsaal der Villa Ludovisi in Rom, erschien einst
Göthe "wie ein Gesang Homers", und in der That wird die Seele
griechisches Mass und griechische Schönheit selten so vernehmlich zu

1) Wahrscheinlich für einen ganz bestimmten Standort berechnet. -- Es wäre
sehr wünschenswerth, über das perspectivische Gesetz, welches solchen Ano-
malbildungen zu Grunde liegt, eine zusammenhängende Belehrung zu erhal-
ten, und zwar von einem Bildhauer. Vgl. S. 422, c.
Antike Sculptur. Hera.
a

Die beiden Dioskuren der Capitolstreppe, sonderbar bedingte
Werke 1) aus noch ziemlich guter Zeit, scheinen ganz geschaffen, um
den Werth der quirinalischen ins hellste Licht zu stellen.


Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus bedurfte einer
entsprechend grossartigen Persönlichkeit, in welcher die Königin der
Götter zu erkennen sein sollte. Die reife Schönheit eines mächtigen
Weibes ist denn auch nie bedeutender dargestellt worden, als in die-
sem Typus, der doch zugleich eine unbegreifliche Jugendlichkeit aus-
spricht. Die Statuen sind meist spät, verrathen aber ein herrliches
bVorbild, wie z. B. die colossale in der Sala rotonda des Vaticans.
c(Kleineres Ex. in der Villa Borghese, Zimmer der Juno; ein anderes
din der Galeria delle Statue des Vaticans; noch ein anderes, mit mo-
edernem Kopf, im Museum von Neapel, Halle der Flora.) Das nasse
Anliegen des feinen Untergewandes ist bisweilen allzu absichtlich dazu
benützt, die bedeutenden Formen des Oberleibes hervortreten zu lassen;
sonst aber wird die milde Majestät des bediademten Hauptes und die
imposante Stellung, womit der Körper sich nach der Rechten ausladet,
immer die Herrscherin auf das Deutlichste erkennen lassen.

Eine eigene Aufgabe gewährte dem römischen Bildhauer die Juno
fLanuvina. (Colossalstatue ebenfalls in der Sala rotonda des Vaticans.)
Als Schützerin der Heerden hat sie Haupt und Leib mit einem Thier-
fell bedeckt; mit dem (restaurirten) Speer in der Hand schreitet sie
zu gewaltiger Abwehr aus. Ohne Zweifel hat der Bildner ein uraltes
Tempelbild von Lanuvium in dem Styl griechisch-römischer Zeit re-
produciren müssen; die Züge aber sind junonisch.

Diese göttlichen Züge lernt man nun weit besser als aus irgend
einer Statue, aus zwei berühmten Colossalköpfen kennen. Der eine,
gdie Juno im Hauptsaal der Villa Ludovisi in Rom, erschien einst
Göthe „wie ein Gesang Homers“, und in der That wird die Seele
griechisches Mass und griechische Schönheit selten so vernehmlich zu

1) Wahrscheinlich für einen ganz bestimmten Standort berechnet. — Es wäre
sehr wünschenswerth, über das perspectivische Gesetz, welches solchen Ano-
malbildungen zu Grunde liegt, eine zusammenhängende Belehrung zu erhal-
ten, und zwar von einem Bildhauer. Vgl. S. 422, c.
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[426/0448] Antike Sculptur. Hera. Die beiden Dioskuren der Capitolstreppe, sonderbar bedingte Werke 1) aus noch ziemlich guter Zeit, scheinen ganz geschaffen, um den Werth der quirinalischen ins hellste Licht zu stellen. Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus bedurfte einer entsprechend grossartigen Persönlichkeit, in welcher die Königin der Götter zu erkennen sein sollte. Die reife Schönheit eines mächtigen Weibes ist denn auch nie bedeutender dargestellt worden, als in die- sem Typus, der doch zugleich eine unbegreifliche Jugendlichkeit aus- spricht. Die Statuen sind meist spät, verrathen aber ein herrliches Vorbild, wie z. B. die colossale in der Sala rotonda des Vaticans. (Kleineres Ex. in der Villa Borghese, Zimmer der Juno; ein anderes in der Galeria delle Statue des Vaticans; noch ein anderes, mit mo- dernem Kopf, im Museum von Neapel, Halle der Flora.) Das nasse Anliegen des feinen Untergewandes ist bisweilen allzu absichtlich dazu benützt, die bedeutenden Formen des Oberleibes hervortreten zu lassen; sonst aber wird die milde Majestät des bediademten Hauptes und die imposante Stellung, womit der Körper sich nach der Rechten ausladet, immer die Herrscherin auf das Deutlichste erkennen lassen. b c d e Eine eigene Aufgabe gewährte dem römischen Bildhauer die Juno Lanuvina. (Colossalstatue ebenfalls in der Sala rotonda des Vaticans.) Als Schützerin der Heerden hat sie Haupt und Leib mit einem Thier- fell bedeckt; mit dem (restaurirten) Speer in der Hand schreitet sie zu gewaltiger Abwehr aus. Ohne Zweifel hat der Bildner ein uraltes Tempelbild von Lanuvium in dem Styl griechisch-römischer Zeit re- produciren müssen; die Züge aber sind junonisch. f Diese göttlichen Züge lernt man nun weit besser als aus irgend einer Statue, aus zwei berühmten Colossalköpfen kennen. Der eine, die Juno im Hauptsaal der Villa Ludovisi in Rom, erschien einst Göthe „wie ein Gesang Homers“, und in der That wird die Seele griechisches Mass und griechische Schönheit selten so vernehmlich zu g 1) Wahrscheinlich für einen ganz bestimmten Standort berechnet. — Es wäre sehr wünschenswerth, über das perspectivische Gesetz, welches solchen Ano- malbildungen zu Grunde liegt, eine zusammenhängende Belehrung zu erhal- ten, und zwar von einem Bildhauer. Vgl. S. 422, c.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/448>, abgerufen am 04.06.2024.