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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Die Verhältnisse.

Was sind nun diese Verhältnisse? Sie sollen und können ur-
sprünglich nur der Ausdruck für die Functionen und Bestimmungen
des Gebäudes sein. Allein das erste Erwachen des höhern monumen-
talen Baues giebt ihnen eine weitere Bedeutung und verlangt von
ihnen nicht bloss das Vernünftige, sondern das Schöne und Wohl-
thuende. In Zeiten eines organischen Styles, wie der griechische und
der nordisch-gothische waren, erledigt sich nun die Sache von selbst;
eine und dieselbe Triebkraft bringt Formen und Proportionen untrenn-
bar vereinigt hervor. Hier dagegen handelt es sich um einen secun-
dären Styl, der seine Gedanken freiwillig in fremder Sprache aus-
drückt. Wie nun die Formen frei gewählt sind, so sind es auch die
Verhältnisse; es genügt, wenn beide der Bestimmung des Baues eini-
germassen (und sei es auch nur flüchtig) entsprechen. Dieses grosse
Mass von Freiheit konnte ganz besonders gefährlich wirken in einer
Zeit, die mit der grössten Begier das Ausserordentliche, Ungemeine
von den Architekten verlangte.

Es gereicht den Bessern unter ihnen zum ewigen Ruhm, dass sie
diese Stellung nicht missbrauchten, vielmehr in ihrer Kunst die höch-
sten Gesetze zu Tage zu fördern suchten. Dadurch, dass sie es ernst
nahmen, erreichte denn auch ihre Composition nach Massen eine dauernde,
classische Bedeutung, die gerade bei der grossen Freiheit doppelt
schwer zu erreichen war. Etwas an sich nur Conventionelles drückt
hier einen Rhythmus, einen unläugbaren künstlerischen Gehalt aus.
Die Theorie, welche Stockwerke und Ordnungen messend und beur-
theilend den Gebäuden nachging, umfasste gerade dieses freie Ele-
ment aus guten Gründen nicht; man wird bei Serlio, Vignola und
Palladio keinen Aufschluss in zusammenhängenden Worten, nur bei-
läufige Andeutungen finden; dagegen eine Menge Recepte für Einzel-
verhältnisse, zumal der Säulen.

Die constructive Ehrlichkeit und Gründlichkeit, welche noch keinen
pikanten Widerspruch zwischen den Formen und den baulichen Func-
tionen erstrebte, war ebenfalls der Reinheit und Grösse des Eindruckes

thatsächlich behandelte man diese Ordnungen ganz frei und gab ihnen die-
jenige Ausdehnung zum Ganzen, diejenigen Intervalle zu einander, welche
zweckdienlich schienen.
Die Verhältnisse.

Was sind nun diese Verhältnisse? Sie sollen und können ur-
sprünglich nur der Ausdruck für die Functionen und Bestimmungen
des Gebäudes sein. Allein das erste Erwachen des höhern monumen-
talen Baues giebt ihnen eine weitere Bedeutung und verlangt von
ihnen nicht bloss das Vernünftige, sondern das Schöne und Wohl-
thuende. In Zeiten eines organischen Styles, wie der griechische und
der nordisch-gothische waren, erledigt sich nun die Sache von selbst;
eine und dieselbe Triebkraft bringt Formen und Proportionen untrenn-
bar vereinigt hervor. Hier dagegen handelt es sich um einen secun-
dären Styl, der seine Gedanken freiwillig in fremder Sprache aus-
drückt. Wie nun die Formen frei gewählt sind, so sind es auch die
Verhältnisse; es genügt, wenn beide der Bestimmung des Baues eini-
germassen (und sei es auch nur flüchtig) entsprechen. Dieses grosse
Mass von Freiheit konnte ganz besonders gefährlich wirken in einer
Zeit, die mit der grössten Begier das Ausserordentliche, Ungemeine
von den Architekten verlangte.

Es gereicht den Bessern unter ihnen zum ewigen Ruhm, dass sie
diese Stellung nicht missbrauchten, vielmehr in ihrer Kunst die höch-
sten Gesetze zu Tage zu fördern suchten. Dadurch, dass sie es ernst
nahmen, erreichte denn auch ihre Composition nach Massen eine dauernde,
classische Bedeutung, die gerade bei der grossen Freiheit doppelt
schwer zu erreichen war. Etwas an sich nur Conventionelles drückt
hier einen Rhythmus, einen unläugbaren künstlerischen Gehalt aus.
Die Theorie, welche Stockwerke und Ordnungen messend und beur-
theilend den Gebäuden nachging, umfasste gerade dieses freie Ele-
ment aus guten Gründen nicht; man wird bei Serlio, Vignola und
Palladio keinen Aufschluss in zusammenhängenden Worten, nur bei-
läufige Andeutungen finden; dagegen eine Menge Recepte für Einzel-
verhältnisse, zumal der Säulen.

Die constructive Ehrlichkeit und Gründlichkeit, welche noch keinen
pikanten Widerspruch zwischen den Formen und den baulichen Func-
tionen erstrebte, war ebenfalls der Reinheit und Grösse des Eindruckes

thatsächlich behandelte man diese Ordnungen ganz frei und gab ihnen die-
jenige Ausdehnung zum Ganzen, diejenigen Intervalle zu einander, welche
zweckdienlich schienen.
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[301/0323] Die Verhältnisse. Was sind nun diese Verhältnisse? Sie sollen und können ur- sprünglich nur der Ausdruck für die Functionen und Bestimmungen des Gebäudes sein. Allein das erste Erwachen des höhern monumen- talen Baues giebt ihnen eine weitere Bedeutung und verlangt von ihnen nicht bloss das Vernünftige, sondern das Schöne und Wohl- thuende. In Zeiten eines organischen Styles, wie der griechische und der nordisch-gothische waren, erledigt sich nun die Sache von selbst; eine und dieselbe Triebkraft bringt Formen und Proportionen untrenn- bar vereinigt hervor. Hier dagegen handelt es sich um einen secun- dären Styl, der seine Gedanken freiwillig in fremder Sprache aus- drückt. Wie nun die Formen frei gewählt sind, so sind es auch die Verhältnisse; es genügt, wenn beide der Bestimmung des Baues eini- germassen (und sei es auch nur flüchtig) entsprechen. Dieses grosse Mass von Freiheit konnte ganz besonders gefährlich wirken in einer Zeit, die mit der grössten Begier das Ausserordentliche, Ungemeine von den Architekten verlangte. Es gereicht den Bessern unter ihnen zum ewigen Ruhm, dass sie diese Stellung nicht missbrauchten, vielmehr in ihrer Kunst die höch- sten Gesetze zu Tage zu fördern suchten. Dadurch, dass sie es ernst nahmen, erreichte denn auch ihre Composition nach Massen eine dauernde, classische Bedeutung, die gerade bei der grossen Freiheit doppelt schwer zu erreichen war. Etwas an sich nur Conventionelles drückt hier einen Rhythmus, einen unläugbaren künstlerischen Gehalt aus. Die Theorie, welche Stockwerke und Ordnungen messend und beur- theilend den Gebäuden nachging, umfasste gerade dieses freie Ele- ment aus guten Gründen nicht; man wird bei Serlio, Vignola und Palladio keinen Aufschluss in zusammenhängenden Worten, nur bei- läufige Andeutungen finden; dagegen eine Menge Recepte für Einzel- verhältnisse, zumal der Säulen. Die constructive Ehrlichkeit und Gründlichkeit, welche noch keinen pikanten Widerspruch zwischen den Formen und den baulichen Func- tionen erstrebte, war ebenfalls der Reinheit und Grösse des Eindruckes 1) 1) thatsächlich behandelte man diese Ordnungen ganz frei und gab ihnen die- jenige Ausdehnung zum Ganzen, diejenigen Intervalle zu einander, welche zweckdienlich schienen.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/323>, abgerufen am 18.05.2024.