Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben,
und wenn er nicht schlafen könne, sich mit Gott zu unter-
halten. Er versprach's und that es so die folgende Nacht;
die Mägde hörten ihn fast die ganze Nacht hindurch beten. --

Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene
auf Oberlin's Zimmer. Nachdem sie Verschiedenes gesprochen
hatten, sagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebster
Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen sagte,
ist gestorben, ja gestorben, der Engel! -- "Woher wissen
Sie das?" -- Hieroglyphen, Hieroglyphen -- und dann
zum Himmel geschaut und wieder: ja gestorben -- Hiero-
glyphen. -- Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen.
Er setzte sich und schrieb einige Briefe, gab sie dann Oberlin
mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu setzten. Siehe die
Briefe. *

Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden.
Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin's und aus
der Stille des Thales geschöpft hatte, war weg; die Welt,
die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß; er
hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung -- eine schreck-
liche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen.
Er hatte Nichts. Was er that, that er mit Bewußtsein,
und doch zwang ihn ein innerlicher Instinct. Wenn er
allein war, war es ihm so entsetzlich einsam, daß er be-
ständig laut mit sich redete, rief, und dann erschrack er
wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme
mit ihm gesprochen. Im Gespräche stotterte er oft, eine

* Es scheint des Dichters Absicht gewesen zu sein, Original-
Briefe von Lenz der Novelle einzufügen. Man vergleiche hierüber
den Brief an seine Eltern, Straßburg, October 1835. K. E. F.

nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben,
und wenn er nicht ſchlafen könne, ſich mit Gott zu unter-
halten. Er verſprach's und that es ſo die folgende Nacht;
die Mägde hörten ihn faſt die ganze Nacht hindurch beten. —

Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene
auf Oberlin's Zimmer. Nachdem ſie Verſchiedenes geſprochen
hatten, ſagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebſter
Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen ſagte,
iſt geſtorben, ja geſtorben, der Engel! — "Woher wiſſen
Sie das?" — Hieroglyphen, Hieroglyphen — und dann
zum Himmel geſchaut und wieder: ja geſtorben — Hiero-
glyphen. — Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen.
Er ſetzte ſich und ſchrieb einige Briefe, gab ſie dann Oberlin
mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu ſetzten. Siehe die
Briefe. *

Sein Zuſtand war indeſſen immer troſtloſer geworden.
Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin's und aus
der Stille des Thales geſchöpft hatte, war weg; die Welt,
die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß; er
hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung — eine ſchreck-
liche Leere und doch eine folternde Unruhe, ſie auszufüllen.
Er hatte Nichts. Was er that, that er mit Bewußtſein,
und doch zwang ihn ein innerlicher Inſtinct. Wenn er
allein war, war es ihm ſo entſetzlich einſam, daß er be-
ſtändig laut mit ſich redete, rief, und dann erſchrack er
wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme
mit ihm geſprochen. Im Geſpräche ſtotterte er oft, eine

* Es ſcheint des Dichters Abſicht geweſen zu ſein, Original-
Briefe von Lenz der Novelle einzufügen. Man vergleiche hierüber
den Brief an ſeine Eltern, Straßburg, October 1835. K. E. F.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0430" n="234"/>
nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben,<lb/>
und wenn er nicht &#x017F;chlafen könne, &#x017F;ich mit Gott zu unter-<lb/>
halten. Er ver&#x017F;prach's und that es &#x017F;o die folgende Nacht;<lb/>
die Mägde hörten ihn fa&#x017F;t die ganze Nacht hindurch beten. &#x2014;</p><lb/>
          <p>Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene<lb/>
auf Oberlin's Zimmer. Nachdem &#x017F;ie Ver&#x017F;chiedenes ge&#x017F;prochen<lb/>
hatten, &#x017F;agte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Lieb&#x017F;ter<lb/>
Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen &#x017F;agte,<lb/>
i&#x017F;t ge&#x017F;torben, ja ge&#x017F;torben, der Engel! &#x2014; "Woher wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Sie das?" &#x2014; Hieroglyphen, Hieroglyphen &#x2014; und dann<lb/>
zum Himmel ge&#x017F;chaut und wieder: ja ge&#x017F;torben &#x2014; Hiero-<lb/>
glyphen. &#x2014; Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen.<lb/>
Er &#x017F;etzte &#x017F;ich und &#x017F;chrieb einige Briefe, gab &#x017F;ie dann Oberlin<lb/>
mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu &#x017F;etzten. Siehe die<lb/>
Briefe. <note place="foot" n="*">Es &#x017F;cheint des Dichters Ab&#x017F;icht gewe&#x017F;en zu &#x017F;ein, Original-<lb/>
Briefe von Lenz der Novelle einzufügen. Man vergleiche hierüber<lb/>
den Brief an &#x017F;eine Eltern, Straßburg, October 1835. <hi rendition="#fr">K. E. F.</hi></note></p><lb/>
          <p>Sein Zu&#x017F;tand war inde&#x017F;&#x017F;en immer tro&#x017F;tlo&#x017F;er geworden.<lb/>
Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin's und aus<lb/>
der Stille des Thales ge&#x017F;chöpft hatte, war weg; die Welt,<lb/>
die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß; er<lb/>
hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung &#x2014; eine &#x017F;chreck-<lb/>
liche Leere und doch eine folternde Unruhe, &#x017F;ie auszufüllen.<lb/>
Er hatte <hi rendition="#g">Nichts</hi>. Was er that, that er mit Bewußt&#x017F;ein,<lb/>
und doch zwang ihn ein innerlicher In&#x017F;tinct. Wenn er<lb/>
allein war, war es ihm &#x017F;o ent&#x017F;etzlich ein&#x017F;am, daß er be-<lb/>
&#x017F;tändig laut mit &#x017F;ich redete, rief, und dann er&#x017F;chrack er<lb/>
wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme<lb/>
mit ihm ge&#x017F;prochen. Im Ge&#x017F;präche &#x017F;totterte er oft, eine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0430] nicht mehr zu baden, die Nacht ruhig im Bette zu bleiben, und wenn er nicht ſchlafen könne, ſich mit Gott zu unter- halten. Er verſprach's und that es ſo die folgende Nacht; die Mägde hörten ihn faſt die ganze Nacht hindurch beten. — Den folgenden Morgen kam er mit vergnügter Miene auf Oberlin's Zimmer. Nachdem ſie Verſchiedenes geſprochen hatten, ſagte er mit ausnehmender Freundlichkeit: Liebſter Herr Pfarrer, das Frauenzimmer, wovon ich Ihnen ſagte, iſt geſtorben, ja geſtorben, der Engel! — "Woher wiſſen Sie das?" — Hieroglyphen, Hieroglyphen — und dann zum Himmel geſchaut und wieder: ja geſtorben — Hiero- glyphen. — Es war dann nichts weiter aus ihm zu bringen. Er ſetzte ſich und ſchrieb einige Briefe, gab ſie dann Oberlin mit der Bitte, einige Zeilen dazu zu ſetzten. Siehe die Briefe. * Sein Zuſtand war indeſſen immer troſtloſer geworden. Alles, was er an Ruhe aus der Nähe Oberlin's und aus der Stille des Thales geſchöpft hatte, war weg; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuern Riß; er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung — eine ſchreck- liche Leere und doch eine folternde Unruhe, ſie auszufüllen. Er hatte Nichts. Was er that, that er mit Bewußtſein, und doch zwang ihn ein innerlicher Inſtinct. Wenn er allein war, war es ihm ſo entſetzlich einſam, daß er be- ſtändig laut mit ſich redete, rief, und dann erſchrack er wieder, und es war ihm, als hätte eine fremde Stimme mit ihm geſprochen. Im Geſpräche ſtotterte er oft, eine * Es ſcheint des Dichters Abſicht geweſen zu ſein, Original- Briefe von Lenz der Novelle einzufügen. Man vergleiche hierüber den Brief an ſeine Eltern, Straßburg, October 1835. K. E. F.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/430
Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/430>, abgerufen am 22.11.2024.