Thiergestalten in wunderlicher Weise mit einander, wäh- rend wir dies heute unschön oder herabwürdigend finden. Griechen und Römer wußten wenig oder nichts von den Schönheiten der Natur, welche wir heute so sehr bewun- dern; und die ländlichen Bewohner schöner Gebirgs- gegenden haben meist keine Ahnung von den Schönheiten, von welchen sie umgeben sind. Die Chinesen finden es allerliebst, wenn eine Frau möglichst dick ist und so kleine Füße hat, daß sie nicht gehen kann. Diese Bei- spiele gründlicher Verschiedenheit ästhetischer Begriffe ließen sich beliebig häufen. Gibt es etwas Gemeinsames in diesen Begriffen, so ist es Folge der Erfahrung und Erziehung, abstrahirt aus der objectiven Welt und mit Nothwendigkeit an diese anlehnend. -- Nicht minder sind die moralischen Begriffe mit Recht als Folge allmäh- liger Erudition anzusehen. Völker im Naturzustand begehen Grausamkeiten und Velleitäten, für die gebildete Nationen keinen Begriff haben, und zwar finden Freund und Feind solches Benehmen in der Ordnung. Bei den Jndianern gilt ein gut ausgeführter Diebstahl für das höchste Verdienst, und in Jndien gibt es eine schreckliche und bekannte Verbindung, welche den heimlichen Mord zu religiösen Zwecken ausübt. Das Heidenthum pries den Haß der Feinde als höchste Tugend, das Christen- thum verlangt Liebe auch für den Feind (Moleschott). Welches von beiden ist nun moralische? Den beinahe
Thiergeſtalten in wunderlicher Weiſe mit einander, wäh- rend wir dies heute unſchön oder herabwürdigend finden. Griechen und Römer wußten wenig oder nichts von den Schönheiten der Natur, welche wir heute ſo ſehr bewun- dern; und die ländlichen Bewohner ſchöner Gebirgs- gegenden haben meiſt keine Ahnung von den Schönheiten, von welchen ſie umgeben ſind. Die Chineſen finden es allerliebſt, wenn eine Frau möglichſt dick iſt und ſo kleine Füße hat, daß ſie nicht gehen kann. Dieſe Bei- ſpiele gründlicher Verſchiedenheit äſthetiſcher Begriffe ließen ſich beliebig häufen. Gibt es etwas Gemeinſames in dieſen Begriffen, ſo iſt es Folge der Erfahrung und Erziehung, abſtrahirt aus der objectiven Welt und mit Nothwendigkeit an dieſe anlehnend. — Nicht minder ſind die moraliſchen Begriffe mit Recht als Folge allmäh- liger Erudition anzuſehen. Völker im Naturzuſtand begehen Grauſamkeiten und Velleitäten, für die gebildete Nationen keinen Begriff haben, und zwar finden Freund und Feind ſolches Benehmen in der Ordnung. Bei den Jndianern gilt ein gut ausgeführter Diebſtahl für das höchſte Verdienſt, und in Jndien gibt es eine ſchreckliche und bekannte Verbindung, welche den heimlichen Mord zu religiöſen Zwecken ausübt. Das Heidenthum pries den Haß der Feinde als höchſte Tugend, das Chriſten- thum verlangt Liebe auch für den Feind (Moleſchott). Welches von beiden iſt nun moraliſche? Den beinahe
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Thiergeſtalten in wunderlicher Weiſe mit einander, wäh-
rend wir dies heute unſchön oder herabwürdigend finden.
Griechen und Römer wußten wenig oder nichts von den
Schönheiten der Natur, welche wir heute ſo ſehr bewun-
dern; und die ländlichen Bewohner ſchöner Gebirgs-
gegenden haben meiſt keine Ahnung von den Schönheiten,
von welchen ſie umgeben ſind. Die Chineſen finden es
allerliebſt, wenn eine Frau möglichſt dick iſt und ſo
kleine Füße hat, daß ſie nicht gehen kann. Dieſe Bei-
ſpiele gründlicher Verſchiedenheit äſthetiſcher Begriffe
ließen ſich beliebig häufen. Gibt es etwas Gemeinſames
in dieſen Begriffen, ſo iſt es Folge der Erfahrung und
Erziehung, abſtrahirt aus der objectiven Welt und mit
Nothwendigkeit an dieſe anlehnend. — Nicht minder ſind
die moraliſchen Begriffe mit Recht als Folge allmäh-
liger Erudition anzuſehen. Völker im Naturzuſtand
begehen Grauſamkeiten und Velleitäten, für die gebildete
Nationen keinen Begriff haben, und zwar finden Freund
und Feind ſolches Benehmen in der Ordnung. Bei den
Jndianern gilt ein gut ausgeführter Diebſtahl für das
höchſte Verdienſt, und in Jndien gibt es eine ſchreckliche
und bekannte Verbindung, welche den heimlichen Mord
zu religiöſen Zwecken ausübt. Das Heidenthum pries
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Welches von beiden iſt nun moraliſche? Den beinahe
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Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/191>, abgerufen am 24.11.2024.
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