Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

ständigen Daseins, und diese vollkommene Erinnerungs-
losigkeit beweist für sein damaliges geistiges Nichtsein.
Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß
während des Fruchtzustandes die Eindrücke von Außen
gänzlich fehlen und in der ersten Zeit nach demselben so
mangelhaft sind, daß der geistige Mensch dabei nicht be-
stehen kann. Es ist äußerst interessant, den fast komi-
schen wissenschaftlichen Streit zu betrachten, welcher über
den Zeitpunkt der s. g. Beseelung der menschlichen
Frucht geführt worden ist, ein Streit, welcher von dem
Momente an praktisch wichtig wurde, als man die Tödtung
einer ungebornen Frucht als ein moralisches und juristi-
sches Verbrechen anzusehen begann. Es handelte sich
darum zu wissen, um welche Zeit in der menschlichen
Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per-
sönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erst nach diesem
Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beseelten We-
sen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wissen-
schaftliche und logische Unmöglichkeit, diesen Zeitpunkt
zu bestimmen, beweist für die Verkehrtheit und Unwahr-
heit jener ganzen Anschauungsweise, nach welcher eine
höhere Macht dem Fötus Geist und Seele einbläst. Die
römischen Juristen gingen allein von der richtigen Ansicht
aus, indem sie die Frucht überhaupt nicht als ein beson-
deres Wesen betrachteten, sondern nur als einen Theil
des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem

ſtändigen Daſeins, und dieſe vollkommene Erinnerungs-
loſigkeit beweiſt für ſein damaliges geiſtiges Nichtſein.
Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß
während des Fruchtzuſtandes die Eindrücke von Außen
gänzlich fehlen und in der erſten Zeit nach demſelben ſo
mangelhaft ſind, daß der geiſtige Menſch dabei nicht be-
ſtehen kann. Es iſt äußerſt intereſſant, den faſt komi-
ſchen wiſſenſchaftlichen Streit zu betrachten, welcher über
den Zeitpunkt der ſ. g. Beſeelung der menſchlichen
Frucht geführt worden iſt, ein Streit, welcher von dem
Momente an praktiſch wichtig wurde, als man die Tödtung
einer ungebornen Frucht als ein moraliſches und juriſti-
ſches Verbrechen anzuſehen begann. Es handelte ſich
darum zu wiſſen, um welche Zeit in der menſchlichen
Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per-
ſönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erſt nach dieſem
Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beſeelten We-
ſen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wiſſen-
ſchaftliche und logiſche Unmöglichkeit, dieſen Zeitpunkt
zu beſtimmen, beweiſt für die Verkehrtheit und Unwahr-
heit jener ganzen Anſchauungsweiſe, nach welcher eine
höhere Macht dem Fötus Geiſt und Seele einbläſt. Die
römiſchen Juriſten gingen allein von der richtigen Anſicht
aus, indem ſie die Frucht überhaupt nicht als ein beſon-
deres Weſen betrachteten, ſondern nur als einen Theil
des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0179" n="159"/>
&#x017F;tändigen Da&#x017F;eins, und die&#x017F;e vollkommene Erinnerungs-<lb/>
lo&#x017F;igkeit bewei&#x017F;t für &#x017F;ein damaliges gei&#x017F;tiges <hi rendition="#g">Nicht&#x017F;ein.</hi><lb/>
Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß<lb/>
während des Fruchtzu&#x017F;tandes die Eindrücke von Außen<lb/>
gänzlich fehlen und in der er&#x017F;ten Zeit nach dem&#x017F;elben &#x017F;o<lb/>
mangelhaft &#x017F;ind, daß der gei&#x017F;tige Men&#x017F;ch dabei nicht be-<lb/>
&#x017F;tehen kann. Es i&#x017F;t äußer&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;ant, den fa&#x017F;t komi-<lb/>
&#x017F;chen wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Streit zu betrachten, welcher über<lb/>
den Zeitpunkt der &#x017F;. g. <hi rendition="#g">Be&#x017F;eelung</hi> der men&#x017F;chlichen<lb/>
Frucht geführt worden i&#x017F;t, ein Streit, welcher von dem<lb/>
Momente an prakti&#x017F;ch wichtig wurde, als man die Tödtung<lb/>
einer ungebornen Frucht als ein morali&#x017F;ches und juri&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;ches Verbrechen anzu&#x017F;ehen begann. Es handelte &#x017F;ich<lb/>
darum zu wi&#x017F;&#x017F;en, um welche Zeit in der men&#x017F;chlichen<lb/>
Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per-<lb/>
&#x017F;önliche Seele ihren Sitz nähme, indem er&#x017F;t <hi rendition="#g">nach</hi> die&#x017F;em<lb/>
Zeitpunkte an der Frucht, als an einem <hi rendition="#g">be&#x017F;eelten</hi> We-<lb/>
&#x017F;en ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaftliche und logi&#x017F;che Unmöglichkeit, die&#x017F;en Zeitpunkt<lb/>
zu be&#x017F;timmen, bewei&#x017F;t für die Verkehrtheit und Unwahr-<lb/>
heit jener ganzen An&#x017F;chauungswei&#x017F;e, nach welcher eine<lb/>
höhere Macht dem Fötus Gei&#x017F;t und Seele einblä&#x017F;t. Die<lb/>
römi&#x017F;chen Juri&#x017F;ten gingen allein von der richtigen An&#x017F;icht<lb/>
aus, indem &#x017F;ie die Frucht überhaupt nicht als ein be&#x017F;on-<lb/>
deres We&#x017F;en betrachteten, &#x017F;ondern nur als einen Theil<lb/>
des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0179] ſtändigen Daſeins, und dieſe vollkommene Erinnerungs- loſigkeit beweiſt für ſein damaliges geiſtiges Nichtſein. Der Grund hiervon kann eben nur darin liegen, daß während des Fruchtzuſtandes die Eindrücke von Außen gänzlich fehlen und in der erſten Zeit nach demſelben ſo mangelhaft ſind, daß der geiſtige Menſch dabei nicht be- ſtehen kann. Es iſt äußerſt intereſſant, den faſt komi- ſchen wiſſenſchaftlichen Streit zu betrachten, welcher über den Zeitpunkt der ſ. g. Beſeelung der menſchlichen Frucht geführt worden iſt, ein Streit, welcher von dem Momente an praktiſch wichtig wurde, als man die Tödtung einer ungebornen Frucht als ein moraliſches und juriſti- ſches Verbrechen anzuſehen begann. Es handelte ſich darum zu wiſſen, um welche Zeit in der menſchlichen Frucht während der Dauer ihrer Entwicklung die per- ſönliche Seele ihren Sitz nähme, indem erſt nach dieſem Zeitpunkte an der Frucht, als an einem beſeelten We- ſen ein Verbrechen begangen werden konnte. Die wiſſen- ſchaftliche und logiſche Unmöglichkeit, dieſen Zeitpunkt zu beſtimmen, beweiſt für die Verkehrtheit und Unwahr- heit jener ganzen Anſchauungsweiſe, nach welcher eine höhere Macht dem Fötus Geiſt und Seele einbläſt. Die römiſchen Juriſten gingen allein von der richtigen Anſicht aus, indem ſie die Frucht überhaupt nicht als ein beſon- deres Weſen betrachteten, ſondern nur als einen Theil des mütterlichen Körpers, welcher der Mutter und ihrem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/179
Zitationshilfe: Büchner, Ludwig: Kraft und Stoff. Frankfurt (Main), 1855, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_kraft_1855/179>, abgerufen am 04.05.2024.