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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
Volksrechte und in der Capitulatio de partibus Saxoniae 13. Eine er-
schöpfende Aufzählung der causae maiores findet sich nirgends, auch
nicht in den Stellen, die von der niederen Gerichtsbarkeit gewisse
Kriminalfälle ausnehmen, um sie der Kompetenz des Grafen zuzu-
weisen 14. Denn auch diesfalls fehlen die der Entscheidung des Königs
vorbehaltenen Strafsachen 15, die ausdrücklich aufzuzählen aus jenem
Anlasse nicht erforderlich war. Gelegentlich werden als causae maiores
genannt: homicidia, raptus (Frauenraub), incendia, depraedationes, mem-
brorum amputationes, furta, latrocinia 16. Im Wesentlichen dürften
sich die causae criminales mit den Achtsachen und Fehdesachen ge-
deckt haben. Unter Achtsachen sind die schwereren Strafsachen, die
causae mortales oder capitales 17 zu verstehen. Sie umfassen das An-
wendungsgebiet der Strafen, welchen der Gedanke der Verwirkung des
Lebens zu Grunde liegt, der Acht und gewisser davon abgespaltener
Strafen, namentlich der Todesstrafe, der Verstümmelung, Exilierung
und Verknechtung 18. Fehdesachen waren die Missethaten, durch die
man der Fehde und Rache verfiel 19.

Nicht die Strafe, sondern die Beschaffenheit des bösen Willens
war massgebend für den Begriff der bereits erwähnten Meinwerke.

13 Lex Alam. 43 unterscheidet crimen, quod mortale est, und culpa minor.
Die Capitulatio de partibus Saxoniae zerfällt in capitula maiora, in welchen todes-
würdige Missethaten, und in capitula minora, in welchen Bannfälle und Fälle des
Amtsverlustes behandelt werden. Im letzten der capitula maiora (c. 14) heisst es:
si vero pro his mortalibus criminibus ... aliquis ad sacerdotem confugerit. -- Lex
Angl. et Werin. spricht in c. 53 de minoribus causis, nachdem sie vorher eine
Reihe von schweren Delikten erwähnt hatte.
14 Siehe oben S. 178, Anm. 29, S. 300.
15 Wie Hochverrat und überhaupt die Fälle von Infidelität.
16 Constit. de Hispanis v. J. 815, c. 2. Concil. Matisc. v. J. 583 c. 7, MG Conc.
S. 157: absque causa criminale, id est homicidio, furto aut maleficio. Karl II. für die
Spanier v. J. 844, c. 3, Vaissete II, Nr. 119: nisi pro tribus criminalibus actioni-
bus i. e. homicidio, rapto et incendio. Vgl. u. a. die Keure der vier Ämter bei
Warnkönig, Flandr. RG II 2, UB S. 190, § 24, wo als die sex arduae causae
genannt werden: Todschlag, oppressio mulieris, Brandstiftung, Diebstahl, nächtliche
Heimsuchung und fractio treugae.
17 Siehe oben Anm. 13. Crimen capitale in Ed. Chloth. c. 4, in Lex Baiuw.
II 1, 2. Capitale et publicum crimen in Conv. apud Marsnam sec. v. J. 851, c. 5,
Cap. II 73.
18 Die drei zuletzt genannten Strafen sind Milderungen der Lebensverwir-
kung. Die Möglichkeit, die Strafe um Geld abzulösen, nimmt dem Verbrechen nicht
den Charakter des crimen capitale.
19 Dass diese in den causae criminales inbegriffen waren, folgt aus der Er-
wähnung der homicidia. Bei den Sachsen erhält der Graf durch Cap. de partibus
Saxon. c. 31, I 70 den Königsbann de faida vel maioribus causis.

§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
Volksrechte und in der Capitulatio de partibus Saxoniae 13. Eine er-
schöpfende Aufzählung der causae maiores findet sich nirgends, auch
nicht in den Stellen, die von der niederen Gerichtsbarkeit gewisse
Kriminalfälle ausnehmen, um sie der Kompetenz des Grafen zuzu-
weisen 14. Denn auch diesfalls fehlen die der Entscheidung des Königs
vorbehaltenen Strafsachen 15, die ausdrücklich aufzuzählen aus jenem
Anlasse nicht erforderlich war. Gelegentlich werden als causae maiores
genannt: homicidia, raptus (Frauenraub), incendia, depraedationes, mem-
brorum amputationes, furta, latrocinia 16. Im Wesentlichen dürften
sich die causae criminales mit den Achtsachen und Fehdesachen ge-
deckt haben. Unter Achtsachen sind die schwereren Strafsachen, die
causae mortales oder capitales 17 zu verstehen. Sie umfassen das An-
wendungsgebiet der Strafen, welchen der Gedanke der Verwirkung des
Lebens zu Grunde liegt, der Acht und gewisser davon abgespaltener
Strafen, namentlich der Todesstrafe, der Verstümmelung, Exilierung
und Verknechtung 18. Fehdesachen waren die Missethaten, durch die
man der Fehde und Rache verfiel 19.

Nicht die Strafe, sondern die Beschaffenheit des bösen Willens
war maſsgebend für den Begriff der bereits erwähnten Meinwerke.

13 Lex Alam. 43 unterscheidet crimen, quod mortale est, und culpa minor.
Die Capitulatio de partibus Saxoniae zerfällt in capitula maiora, in welchen todes-
würdige Missethaten, und in capitula minora, in welchen Bannfälle und Fälle des
Amtsverlustes behandelt werden. Im letzten der capitula maiora (c. 14) heiſst es:
si vero pro his mortalibus criminibus … aliquis ad sacerdotem confugerit. — Lex
Angl. et Werin. spricht in c. 53 de minoribus causis, nachdem sie vorher eine
Reihe von schweren Delikten erwähnt hatte.
14 Siehe oben S. 178, Anm. 29, S. 300.
15 Wie Hochverrat und überhaupt die Fälle von Infidelität.
16 Constit. de Hispanis v. J. 815, c. 2. Concil. Matisc. v. J. 583 c. 7, MG Conc.
S. 157: absque causa criminale, id est homicidio, furto aut maleficio. Karl II. für die
Spanier v. J. 844, c. 3, Vaissete II, Nr. 119: nisi pro tribus criminalibus actioni-
bus i. e. homicidio, rapto et incendio. Vgl. u. a. die Keure der vier Ämter bei
Warnkönig, Flandr. RG II 2, UB S. 190, § 24, wo als die sex arduae causae
genannt werden: Todschlag, oppressio mulieris, Brandstiftung, Diebstahl, nächtliche
Heimsuchung und fractio treugae.
17 Siehe oben Anm. 13. Crimen capitale in Ed. Chloth. c. 4, in Lex Baiuw.
II 1, 2. Capitale et publicum crimen in Conv. apud Marsnam sec. v. J. 851, c. 5,
Cap. II 73.
18 Die drei zuletzt genannten Strafen sind Milderungen der Lebensverwir-
kung. Die Möglichkeit, die Strafe um Geld abzulösen, nimmt dem Verbrechen nicht
den Charakter des crimen capitale.
19 Daſs diese in den causae criminales inbegriffen waren, folgt aus der Er-
wähnung der homicidia. Bei den Sachsen erhält der Graf durch Cap. de partibus
Saxon. c. 31, I 70 den Königsbann de faida vel maioribus causis.
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[539/0557] § 124. Begriff und Arten der Missethat. Volksrechte und in der Capitulatio de partibus Saxoniae 13. Eine er- schöpfende Aufzählung der causae maiores findet sich nirgends, auch nicht in den Stellen, die von der niederen Gerichtsbarkeit gewisse Kriminalfälle ausnehmen, um sie der Kompetenz des Grafen zuzu- weisen 14. Denn auch diesfalls fehlen die der Entscheidung des Königs vorbehaltenen Strafsachen 15, die ausdrücklich aufzuzählen aus jenem Anlasse nicht erforderlich war. Gelegentlich werden als causae maiores genannt: homicidia, raptus (Frauenraub), incendia, depraedationes, mem- brorum amputationes, furta, latrocinia 16. Im Wesentlichen dürften sich die causae criminales mit den Achtsachen und Fehdesachen ge- deckt haben. Unter Achtsachen sind die schwereren Strafsachen, die causae mortales oder capitales 17 zu verstehen. Sie umfassen das An- wendungsgebiet der Strafen, welchen der Gedanke der Verwirkung des Lebens zu Grunde liegt, der Acht und gewisser davon abgespaltener Strafen, namentlich der Todesstrafe, der Verstümmelung, Exilierung und Verknechtung 18. Fehdesachen waren die Missethaten, durch die man der Fehde und Rache verfiel 19. Nicht die Strafe, sondern die Beschaffenheit des bösen Willens war maſsgebend für den Begriff der bereits erwähnten Meinwerke. 13 Lex Alam. 43 unterscheidet crimen, quod mortale est, und culpa minor. Die Capitulatio de partibus Saxoniae zerfällt in capitula maiora, in welchen todes- würdige Missethaten, und in capitula minora, in welchen Bannfälle und Fälle des Amtsverlustes behandelt werden. Im letzten der capitula maiora (c. 14) heiſst es: si vero pro his mortalibus criminibus … aliquis ad sacerdotem confugerit. — Lex Angl. et Werin. spricht in c. 53 de minoribus causis, nachdem sie vorher eine Reihe von schweren Delikten erwähnt hatte. 14 Siehe oben S. 178, Anm. 29, S. 300. 15 Wie Hochverrat und überhaupt die Fälle von Infidelität. 16 Constit. de Hispanis v. J. 815, c. 2. Concil. Matisc. v. J. 583 c. 7, MG Conc. S. 157: absque causa criminale, id est homicidio, furto aut maleficio. Karl II. für die Spanier v. J. 844, c. 3, Vaissete II, Nr. 119: nisi pro tribus criminalibus actioni- bus i. e. homicidio, rapto et incendio. Vgl. u. a. die Keure der vier Ämter bei Warnkönig, Flandr. RG II 2, UB S. 190, § 24, wo als die sex arduae causae genannt werden: Todschlag, oppressio mulieris, Brandstiftung, Diebstahl, nächtliche Heimsuchung und fractio treugae. 17 Siehe oben Anm. 13. Crimen capitale in Ed. Chloth. c. 4, in Lex Baiuw. II 1, 2. Capitale et publicum crimen in Conv. apud Marsnam sec. v. J. 851, c. 5, Cap. II 73. 18 Die drei zuletzt genannten Strafen sind Milderungen der Lebensverwir- kung. Die Möglichkeit, die Strafe um Geld abzulösen, nimmt dem Verbrechen nicht den Charakter des crimen capitale. 19 Daſs diese in den causae criminales inbegriffen waren, folgt aus der Er- wähnung der homicidia. Bei den Sachsen erhält der Graf durch Cap. de partibus Saxon. c. 31, I 70 den Königsbann de faida vel maioribus causis.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 539. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/557>, abgerufen am 17.05.2024.