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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
Ein Merkmal der niedrigen Gesinnung, durch die das Meinwerk sich
kennzeichnete, sah man in der Heimlichkeit, die aber wiederum typisch
gefasst wurde, so dass z. B. gewisse Verbrechen, wenn sie bei Nacht
begangen worden, schlechtweg für heimliche Verbrechen galten. Be-
stimmten Missethaten war die Heimlichkeit wesentlich; sie qualfizierte
den Mord, Diebstahl 20, Mordbrand und die Zauberei. Zu den Meinwerken
zählen ferner als Bruch von Treuverhältnissen Landes- und Hochver-
rat mit Einschluss der Heeresflucht, Tötung des Herrn, Tötung von
Geiseln 21 und von Verwandten, ausserdem Verletzung der Urfehde, Eid-
bruch und Meineid 22.

Die Missethat gilt entweder für eine absichtliche oder für eine
absichtslose, ein Gegensatz, der im § 125 zur Sprache gelangen soll.

Bei gewissen Verbrechen wird unterschieden, ob sie ohne jede
oder ohne dringende Veranlassung begangen worden sind, oder ob der
Missethäter durch das Verhalten des Verletzten dazu gereizt worden ist 23.

Der Rückfall begann unter steigendem kirchlichem Einfluss 24 für
die Schwere der Missethat mehr ins Gewicht zu fallen. Am weitesten
gingen in der Berücksichtigung des Rückfalls die unter kirchlicher
Herrschaft entstandenen Strafsatzungen der Capitula Remedii. Aber
schon das ältere weltliche Recht dürfte den rückfälligen Dieb, der aus
Anlass früheren Diebstahls durch körperliche Verstümmelung gekenn-
zeichnet worden war, strenger bestraft haben, als jenen, der zum
erstemal gestohlen hatte 25.

Von massgebender Bedeutung für den Grad der Missethat war das
Übel, das sie verursacht hatte. Je höher der Wert des geschädigten
Gutes, desto höher die Vergeltung der That, ein Grundsatz, der im
Gebiete des Busssystemes zur konsequentesten Anwendung kommt.
Darum wird allenthalben zwischen grossem und kleinem Diebstahl
unterschieden und bei der Sühne des Todschlags auf den Stand des
Getöteten Rücksicht genommen, wird nach manchen Rechten der Pfeil-

20 Roth. 259: inhonestum esse vedetur et nulli rei convenit rationi, ut homo
liber se in furtum debeat miscere aut consensum praebere.
21 Lex Fris. 20, 1.
22 Reissende Ströme waten in Hel Meineidige und Mordwölfe nach Völuspa 24.
Nichtsdestoweniger ist nach manchen Rechten die unmittelbare Strafe des Mein-
eids eine verhältnismässig geringe. Der Staatsgewalt kommt es bei der Bemessung
der Strafe in erster Linie auf das Verhältnis des Friedensbruchs zur öffentlichen
Ordnung, der religiösen Volksanschauung auf die Verwerflichkeit der Gesinnung
an. Über den Formalismus in den Voraussetzungen des Meineids siehe oben
S. 389.
23 Siehe unten § 138.
24 Vgl. Alfred, Einleitung 49, § 7.
25 Siehe unten § 139.

§ 124. Begriff und Arten der Missethat.
Ein Merkmal der niedrigen Gesinnung, durch die das Meinwerk sich
kennzeichnete, sah man in der Heimlichkeit, die aber wiederum typisch
gefaſst wurde, so daſs z. B. gewisse Verbrechen, wenn sie bei Nacht
begangen worden, schlechtweg für heimliche Verbrechen galten. Be-
stimmten Missethaten war die Heimlichkeit wesentlich; sie qualfizierte
den Mord, Diebstahl 20, Mordbrand und die Zauberei. Zu den Meinwerken
zählen ferner als Bruch von Treuverhältnissen Landes- und Hochver-
rat mit Einschluſs der Heeresflucht, Tötung des Herrn, Tötung von
Geiseln 21 und von Verwandten, auſserdem Verletzung der Urfehde, Eid-
bruch und Meineid 22.

Die Missethat gilt entweder für eine absichtliche oder für eine
absichtslose, ein Gegensatz, der im § 125 zur Sprache gelangen soll.

Bei gewissen Verbrechen wird unterschieden, ob sie ohne jede
oder ohne dringende Veranlassung begangen worden sind, oder ob der
Missethäter durch das Verhalten des Verletzten dazu gereizt worden ist 23.

Der Rückfall begann unter steigendem kirchlichem Einfluſs 24 für
die Schwere der Missethat mehr ins Gewicht zu fallen. Am weitesten
gingen in der Berücksichtigung des Rückfalls die unter kirchlicher
Herrschaft entstandenen Strafsatzungen der Capitula Remedii. Aber
schon das ältere weltliche Recht dürfte den rückfälligen Dieb, der aus
Anlaſs früheren Diebstahls durch körperliche Verstümmelung gekenn-
zeichnet worden war, strenger bestraft haben, als jenen, der zum
erstemal gestohlen hatte 25.

Von maſsgebender Bedeutung für den Grad der Missethat war das
Übel, das sie verursacht hatte. Je höher der Wert des geschädigten
Gutes, desto höher die Vergeltung der That, ein Grundsatz, der im
Gebiete des Buſssystemes zur konsequentesten Anwendung kommt.
Darum wird allenthalben zwischen groſsem und kleinem Diebstahl
unterschieden und bei der Sühne des Todschlags auf den Stand des
Getöteten Rücksicht genommen, wird nach manchen Rechten der Pfeil-

20 Roth. 259: inhonestum esse vedetur et nulli rei convenit rationi, ut homo
liber se in furtum debeat miscere aut consensum praebere.
21 Lex Fris. 20, 1.
22 Reiſsende Ströme waten in Hel Meineidige und Mordwölfe nach Völuspa 24.
Nichtsdestoweniger ist nach manchen Rechten die unmittelbare Strafe des Mein-
eids eine verhältnismäſsig geringe. Der Staatsgewalt kommt es bei der Bemessung
der Strafe in erster Linie auf das Verhältnis des Friedensbruchs zur öffentlichen
Ordnung, der religiösen Volksanschauung auf die Verwerflichkeit der Gesinnung
an. Über den Formalismus in den Voraussetzungen des Meineids siehe oben
S. 389.
23 Siehe unten § 138.
24 Vgl. Alfred, Einleitung 49, § 7.
25 Siehe unten § 139.
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[540/0558] § 124. Begriff und Arten der Missethat. Ein Merkmal der niedrigen Gesinnung, durch die das Meinwerk sich kennzeichnete, sah man in der Heimlichkeit, die aber wiederum typisch gefaſst wurde, so daſs z. B. gewisse Verbrechen, wenn sie bei Nacht begangen worden, schlechtweg für heimliche Verbrechen galten. Be- stimmten Missethaten war die Heimlichkeit wesentlich; sie qualfizierte den Mord, Diebstahl 20, Mordbrand und die Zauberei. Zu den Meinwerken zählen ferner als Bruch von Treuverhältnissen Landes- und Hochver- rat mit Einschluſs der Heeresflucht, Tötung des Herrn, Tötung von Geiseln 21 und von Verwandten, auſserdem Verletzung der Urfehde, Eid- bruch und Meineid 22. Die Missethat gilt entweder für eine absichtliche oder für eine absichtslose, ein Gegensatz, der im § 125 zur Sprache gelangen soll. Bei gewissen Verbrechen wird unterschieden, ob sie ohne jede oder ohne dringende Veranlassung begangen worden sind, oder ob der Missethäter durch das Verhalten des Verletzten dazu gereizt worden ist 23. Der Rückfall begann unter steigendem kirchlichem Einfluſs 24 für die Schwere der Missethat mehr ins Gewicht zu fallen. Am weitesten gingen in der Berücksichtigung des Rückfalls die unter kirchlicher Herrschaft entstandenen Strafsatzungen der Capitula Remedii. Aber schon das ältere weltliche Recht dürfte den rückfälligen Dieb, der aus Anlaſs früheren Diebstahls durch körperliche Verstümmelung gekenn- zeichnet worden war, strenger bestraft haben, als jenen, der zum erstemal gestohlen hatte 25. Von maſsgebender Bedeutung für den Grad der Missethat war das Übel, das sie verursacht hatte. Je höher der Wert des geschädigten Gutes, desto höher die Vergeltung der That, ein Grundsatz, der im Gebiete des Buſssystemes zur konsequentesten Anwendung kommt. Darum wird allenthalben zwischen groſsem und kleinem Diebstahl unterschieden und bei der Sühne des Todschlags auf den Stand des Getöteten Rücksicht genommen, wird nach manchen Rechten der Pfeil- 20 Roth. 259: inhonestum esse vedetur et nulli rei convenit rationi, ut homo liber se in furtum debeat miscere aut consensum praebere. 21 Lex Fris. 20, 1. 22 Reiſsende Ströme waten in Hel Meineidige und Mordwölfe nach Völuspa 24. Nichtsdestoweniger ist nach manchen Rechten die unmittelbare Strafe des Mein- eids eine verhältnismäſsig geringe. Der Staatsgewalt kommt es bei der Bemessung der Strafe in erster Linie auf das Verhältnis des Friedensbruchs zur öffentlichen Ordnung, der religiösen Volksanschauung auf die Verwerflichkeit der Gesinnung an. Über den Formalismus in den Voraussetzungen des Meineids siehe oben S. 389. 23 Siehe unten § 138. 24 Vgl. Alfred, Einleitung 49, § 7. 25 Siehe unten § 139.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/558>, abgerufen am 25.11.2024.