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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 124. Begriff und Arten der Missethat.

Die Missethaten werden unterschieden mit Rücksicht auf die
Rechtsfolge, die sie herbeiführen. Schon oben in der Darstellung des
ältesten Strafrechts haben wir die Missethaten gesondert in solche, die
dem Missethäter die Feindschaft der Gesamtheit, und solche, die ihm
nur die Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe zuziehen. Auch
den Quellen der fränkischen Zeit ist der Begriff der Missethaten, unde
faida crescere potest, noch geläufig, obwohl deren Kreis eine merk-
liche Einschränkung erfahren hatte. Sachlich vorhanden war, wenn
er auch in unseren Quellen nur selten hervorgehoben wird, der
Unterschied von Achtsachen und Busssachen, von welchen jene
mit der Acht oder mit einer von ihr abgespaltenen Strafe geahndet
wurden, während diese in erster Linie nur einen Bussanspruch be-
gründeten. Der dem älteren Rechte bekannte Gegensatz von sühn-
baren und unsühnbaren Thaten ist durch kirchliche Einflüsse bei den
Stämmen des fränkischen Reiches in merowingischer Zeit fast völlig
beseitigt worden, da die Kirche grundsätzlich für die Sühnbarkeit
jeglicher Missethat eintrat. Dieselbe Erscheinung begegnet uns bei
den Angelsachsen 10. Wie aber bei diesen seit dem Ausgange des
neunten Jahrhunderts die uralte Unterscheidung unter Einwirkung des
anglo-dänischen Rechtes wieder auflebt, so mehren sich auch in den
deutschen Stammesrechten des Festlandes und im fränkischen Reichs-
rechte die Fälle, in welchen dem Missethäter ein Rechtsanspruch auf
Ledigung von Lebens- und Leibesstrafen versagt wird.

Die Art der Strafe bestimmt auch den Begriff des crimen, der
causa criminalis, Ausdrücke, die unter römischem Einfluss in die
fränkische Rechtssprache eindrangen, ohne aber im römischen Sinne
genommen zu werden. Im Gegensatz zum spätrömischen Sprach-
gebrauch verstand man nämlich unter causae criminales nur die causae
maiores 11, so dass ihnen die minder strafbaren Missethaten als causae
minores oder leviores gegenübergestellt werden. Im Sinne der causa
maior begegnet uns das negotium criminale im Edikte Chlothars II.
v. J. 614 12, die causa oder actio criminalis in Kapitularien und Im-
munitätsbriefen, die sie der Kompetenz des Centenars oder des Im-
munitätsherrn vorenthalten, das crimen mortale im alamannischen

10 Laut Alfred, Einleitung 49, § 7, haben bei den Angelsachsen nach der
Christianisierung die von Bischöfen und anderen erlauchten Witan abgehaltenen
Versammlungen um der Barmherzigkeit willen, die Christus lehrte, bestimmt, dass
eine Missethat, zum erstenmal begangen, mit Geldbusse gesühnt werden dürfe, aus-
genommen den Verrat des Herrn.
11 Wilda, Strafrecht S. 276. Nissl, Gerichtsstand des Klerus S. 11.
12 Siehe oben S. 315, Anm. 10.
§ 124. Begriff und Arten der Missethat.

Die Missethaten werden unterschieden mit Rücksicht auf die
Rechtsfolge, die sie herbeiführen. Schon oben in der Darstellung des
ältesten Strafrechts haben wir die Missethaten gesondert in solche, die
dem Missethäter die Feindschaft der Gesamtheit, und solche, die ihm
nur die Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe zuziehen. Auch
den Quellen der fränkischen Zeit ist der Begriff der Missethaten, unde
faida crescere potest, noch geläufig, obwohl deren Kreis eine merk-
liche Einschränkung erfahren hatte. Sachlich vorhanden war, wenn
er auch in unseren Quellen nur selten hervorgehoben wird, der
Unterschied von Achtsachen und Buſssachen, von welchen jene
mit der Acht oder mit einer von ihr abgespaltenen Strafe geahndet
wurden, während diese in erster Linie nur einen Buſsanspruch be-
gründeten. Der dem älteren Rechte bekannte Gegensatz von sühn-
baren und unsühnbaren Thaten ist durch kirchliche Einflüsse bei den
Stämmen des fränkischen Reiches in merowingischer Zeit fast völlig
beseitigt worden, da die Kirche grundsätzlich für die Sühnbarkeit
jeglicher Missethat eintrat. Dieselbe Erscheinung begegnet uns bei
den Angelsachsen 10. Wie aber bei diesen seit dem Ausgange des
neunten Jahrhunderts die uralte Unterscheidung unter Einwirkung des
anglo-dänischen Rechtes wieder auflebt, so mehren sich auch in den
deutschen Stammesrechten des Festlandes und im fränkischen Reichs-
rechte die Fälle, in welchen dem Missethäter ein Rechtsanspruch auf
Ledigung von Lebens- und Leibesstrafen versagt wird.

Die Art der Strafe bestimmt auch den Begriff des crimen, der
causa criminalis, Ausdrücke, die unter römischem Einfluss in die
fränkische Rechtssprache eindrangen, ohne aber im römischen Sinne
genommen zu werden. Im Gegensatz zum spätrömischen Sprach-
gebrauch verstand man nämlich unter causae criminales nur die causae
maiores 11, so daſs ihnen die minder strafbaren Missethaten als causae
minores oder leviores gegenübergestellt werden. Im Sinne der causa
maior begegnet uns das negotium criminale im Edikte Chlothars II.
v. J. 614 12, die causa oder actio criminalis in Kapitularien und Im-
munitätsbriefen, die sie der Kompetenz des Centenars oder des Im-
munitätsherrn vorenthalten, das crimen mortale im alamannischen

10 Laut Alfred, Einleitung 49, § 7, haben bei den Angelsachsen nach der
Christianisierung die von Bischöfen und anderen erlauchten Witan abgehaltenen
Versammlungen um der Barmherzigkeit willen, die Christus lehrte, bestimmt, daſs
eine Missethat, zum erstenmal begangen, mit Geldbuſse gesühnt werden dürfe, aus-
genommen den Verrat des Herrn.
11 Wilda, Strafrecht S. 276. Niſsl, Gerichtsstand des Klerus S. 11.
12 Siehe oben S. 315, Anm. 10.
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[538/0556] § 124. Begriff und Arten der Missethat. Die Missethaten werden unterschieden mit Rücksicht auf die Rechtsfolge, die sie herbeiführen. Schon oben in der Darstellung des ältesten Strafrechts haben wir die Missethaten gesondert in solche, die dem Missethäter die Feindschaft der Gesamtheit, und solche, die ihm nur die Feindschaft des Verletzten und seiner Sippe zuziehen. Auch den Quellen der fränkischen Zeit ist der Begriff der Missethaten, unde faida crescere potest, noch geläufig, obwohl deren Kreis eine merk- liche Einschränkung erfahren hatte. Sachlich vorhanden war, wenn er auch in unseren Quellen nur selten hervorgehoben wird, der Unterschied von Achtsachen und Buſssachen, von welchen jene mit der Acht oder mit einer von ihr abgespaltenen Strafe geahndet wurden, während diese in erster Linie nur einen Buſsanspruch be- gründeten. Der dem älteren Rechte bekannte Gegensatz von sühn- baren und unsühnbaren Thaten ist durch kirchliche Einflüsse bei den Stämmen des fränkischen Reiches in merowingischer Zeit fast völlig beseitigt worden, da die Kirche grundsätzlich für die Sühnbarkeit jeglicher Missethat eintrat. Dieselbe Erscheinung begegnet uns bei den Angelsachsen 10. Wie aber bei diesen seit dem Ausgange des neunten Jahrhunderts die uralte Unterscheidung unter Einwirkung des anglo-dänischen Rechtes wieder auflebt, so mehren sich auch in den deutschen Stammesrechten des Festlandes und im fränkischen Reichs- rechte die Fälle, in welchen dem Missethäter ein Rechtsanspruch auf Ledigung von Lebens- und Leibesstrafen versagt wird. Die Art der Strafe bestimmt auch den Begriff des crimen, der causa criminalis, Ausdrücke, die unter römischem Einfluss in die fränkische Rechtssprache eindrangen, ohne aber im römischen Sinne genommen zu werden. Im Gegensatz zum spätrömischen Sprach- gebrauch verstand man nämlich unter causae criminales nur die causae maiores 11, so daſs ihnen die minder strafbaren Missethaten als causae minores oder leviores gegenübergestellt werden. Im Sinne der causa maior begegnet uns das negotium criminale im Edikte Chlothars II. v. J. 614 12, die causa oder actio criminalis in Kapitularien und Im- munitätsbriefen, die sie der Kompetenz des Centenars oder des Im- munitätsherrn vorenthalten, das crimen mortale im alamannischen 10 Laut Alfred, Einleitung 49, § 7, haben bei den Angelsachsen nach der Christianisierung die von Bischöfen und anderen erlauchten Witan abgehaltenen Versammlungen um der Barmherzigkeit willen, die Christus lehrte, bestimmt, daſs eine Missethat, zum erstenmal begangen, mit Geldbuſse gesühnt werden dürfe, aus- genommen den Verrat des Herrn. 11 Wilda, Strafrecht S. 276. Niſsl, Gerichtsstand des Klerus S. 11. 12 Siehe oben S. 315, Anm. 10.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/556>, abgerufen am 22.11.2024.