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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 106. Die Gottesurteile.
Sie wendet es nur subsidiär an bei Freien, die, weil nicht zum ribua-
rischen Stamme gehörig, keine Eidhelfer finden können, und bei
Knechten, für die der Herr nicht schwören will 35. Kesselfang ist
wahrscheinlich auch das Ordal, durch welches nach chamavischem
Rechte der Mann sich von der Mordklage reinigt, wenn sein Herr
ihn nicht freischwört 36. Auf dem Standpunkte des ribuarischen Rechts
stehen die karolingischen Kapitularien und die jüngeren fränkischen
Rechtsquellen. Der Kesselfang erscheint hier hauptsächlich als Reini-
gungsmittel der Knechte 37. Freie Leute greifen höchstens dann in den
Kessel, wenn sie das Eidesrecht nicht ausüben können, weil ihnen Eid-
helfer fehlen 38, oder wenn sie das Eidesrecht verwirkt hatten 39.

Nur als Sklavenprobe ist uns der Kesselgriff überliefert bei den
Sachsen 40, Mittelfriesen 41 und Langobarden 42. Die Westfriesen
wenden ihn ausserdem an, um unter mehreren, die gleichzeitig um
Todschlag belangt worden sind, den Schuldigen zu ermitteln, nachdem
jeder selbzwölft einen Unschuldseid geschworen hat 43. Die Ostfriesen
gestatten den Kesselfang dem Beklagten, der, wegen angeblichen Dieb-
stahls ergriffen, eine absichtlich unwahre Anklage behauptet, verlangen
aber, wenn im angegebenen Falle der Beklagte das Ordal bestanden,
dass der Kläger sich gleichfalls durch Kesselfang von dem Vorwurf
der arglistig falschen Anklage reinige 44. Bei den Westgoten erscheint

eneum, in Lex Sal. 106, 7 Cod. 1 manum ad igneum mittere, die übrigen Codices
in aeneum, eneum. Vgl. Zeumers Index zur Lex Rib. s. v. igneum.
35 Lex Rib. 31, 5; 30, 1. 2.
36 Lex Chamav. 46. Die Lex kennt ein Feuerordal in anderer als beweis-
rechtlicher Anwendung (c. 48, siehe oben I 176).
37 Cap. legg. add. 818--819, c. 1, I 281; Cap. Worm. pro lege hab. v. J.
829, c. 1, II 18.
38 Arg. Cap. Franconofurt. v. J. 794, c. 9, I 75.
39 Siehe oben S. 390 f.
40 Cap. apud Ansegis. servatum 810--811 (?), c. 5, I 160.
41 Lex Fris. 3, 6.
42 Liu. 50.
43 Lex Fris. 14, 3.
44 Lex Fris. 3, 8: iuret uterque solus et ad examinationem ferventis aquae
iudicio Dei probandus accedat. Die Stelle wird gewöhnlich von einem zweiseitigen
Ordal verstanden (siehe Patetta S. 273), sodass beide Teile sich gleichzeitig dem
Ordal hätten unterziehen müssen. Aber was geschah, wenn beide Teile sich ver-
brannten? Ich glaube, die Stelle in folgender Weise erklären zu können. Der Be-
klagte behauptet calumnia des Klägers. Der Kläger schwört dann den Voreid
(vgl. die Urk. Perard S. 148, H. 370), der Beklagte einen Eineid über seine Unschuld.
Dann geht zunächst nur dieser zum Ordal (accedat bezieht sich nicht auf uterque,
Subjekt ist probandus, nämlich der Beklagte, vgl. Patetta a. O.). Gelang das Or-
dal, so hat der Kläger durch Kesselfang die Wahrheit seines Voreides über das

§ 106. Die Gottesurteile.
Sie wendet es nur subsidiär an bei Freien, die, weil nicht zum ribua-
rischen Stamme gehörig, keine Eidhelfer finden können, und bei
Knechten, für die der Herr nicht schwören will 35. Kesselfang ist
wahrscheinlich auch das Ordal, durch welches nach chamavischem
Rechte der Mann sich von der Mordklage reinigt, wenn sein Herr
ihn nicht freischwört 36. Auf dem Standpunkte des ribuarischen Rechts
stehen die karolingischen Kapitularien und die jüngeren fränkischen
Rechtsquellen. Der Kesselfang erscheint hier hauptsächlich als Reini-
gungsmittel der Knechte 37. Freie Leute greifen höchstens dann in den
Kessel, wenn sie das Eidesrecht nicht ausüben können, weil ihnen Eid-
helfer fehlen 38, oder wenn sie das Eidesrecht verwirkt hatten 39.

Nur als Sklavenprobe ist uns der Kesselgriff überliefert bei den
Sachsen 40, Mittelfriesen 41 und Langobarden 42. Die Westfriesen
wenden ihn auſserdem an, um unter mehreren, die gleichzeitig um
Todschlag belangt worden sind, den Schuldigen zu ermitteln, nachdem
jeder selbzwölft einen Unschuldseid geschworen hat 43. Die Ostfriesen
gestatten den Kesselfang dem Beklagten, der, wegen angeblichen Dieb-
stahls ergriffen, eine absichtlich unwahre Anklage behauptet, verlangen
aber, wenn im angegebenen Falle der Beklagte das Ordal bestanden,
daſs der Kläger sich gleichfalls durch Kesselfang von dem Vorwurf
der arglistig falschen Anklage reinige 44. Bei den Westgoten erscheint

eneum, in Lex Sal. 106, 7 Cod. 1 manum ad igneum mittere, die übrigen Codices
in aeneum, eneum. Vgl. Zeumers Index zur Lex Rib. s. v. igneum.
35 Lex Rib. 31, 5; 30, 1. 2.
36 Lex Chamav. 46. Die Lex kennt ein Feuerordal in anderer als beweis-
rechtlicher Anwendung (c. 48, siehe oben I 176).
37 Cap. legg. add. 818—819, c. 1, I 281; Cap. Worm. pro lege hab. v. J.
829, c. 1, II 18.
38 Arg. Cap. Franconofurt. v. J. 794, c. 9, I 75.
39 Siehe oben S. 390 f.
40 Cap. apud Ansegis. servatum 810—811 (?), c. 5, I 160.
41 Lex Fris. 3, 6.
42 Liu. 50.
43 Lex Fris. 14, 3.
44 Lex Fris. 3, 8: iuret uterque solus et ad examinationem ferventis aquae
iudicio Dei probandus accedat. Die Stelle wird gewöhnlich von einem zweiseitigen
Ordal verstanden (siehe Patetta S. 273), sodaſs beide Teile sich gleichzeitig dem
Ordal hätten unterziehen müssen. Aber was geschah, wenn beide Teile sich ver-
brannten? Ich glaube, die Stelle in folgender Weise erklären zu können. Der Be-
klagte behauptet calumnia des Klägers. Der Kläger schwört dann den Voreid
(vgl. die Urk. Pérard S. 148, H. 370), der Beklagte einen Eineid über seine Unschuld.
Dann geht zunächst nur dieser zum Ordal (accedat bezieht sich nicht auf uterque,
Subjekt ist probandus, nämlich der Beklagte, vgl. Patetta a. O.). Gelang das Or-
dal, so hat der Kläger durch Kesselfang die Wahrheit seines Voreides über das
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[408/0426] § 106. Die Gottesurteile. Sie wendet es nur subsidiär an bei Freien, die, weil nicht zum ribua- rischen Stamme gehörig, keine Eidhelfer finden können, und bei Knechten, für die der Herr nicht schwören will 35. Kesselfang ist wahrscheinlich auch das Ordal, durch welches nach chamavischem Rechte der Mann sich von der Mordklage reinigt, wenn sein Herr ihn nicht freischwört 36. Auf dem Standpunkte des ribuarischen Rechts stehen die karolingischen Kapitularien und die jüngeren fränkischen Rechtsquellen. Der Kesselfang erscheint hier hauptsächlich als Reini- gungsmittel der Knechte 37. Freie Leute greifen höchstens dann in den Kessel, wenn sie das Eidesrecht nicht ausüben können, weil ihnen Eid- helfer fehlen 38, oder wenn sie das Eidesrecht verwirkt hatten 39. Nur als Sklavenprobe ist uns der Kesselgriff überliefert bei den Sachsen 40, Mittelfriesen 41 und Langobarden 42. Die Westfriesen wenden ihn auſserdem an, um unter mehreren, die gleichzeitig um Todschlag belangt worden sind, den Schuldigen zu ermitteln, nachdem jeder selbzwölft einen Unschuldseid geschworen hat 43. Die Ostfriesen gestatten den Kesselfang dem Beklagten, der, wegen angeblichen Dieb- stahls ergriffen, eine absichtlich unwahre Anklage behauptet, verlangen aber, wenn im angegebenen Falle der Beklagte das Ordal bestanden, daſs der Kläger sich gleichfalls durch Kesselfang von dem Vorwurf der arglistig falschen Anklage reinige 44. Bei den Westgoten erscheint 34 35 Lex Rib. 31, 5; 30, 1. 2. 36 Lex Chamav. 46. Die Lex kennt ein Feuerordal in anderer als beweis- rechtlicher Anwendung (c. 48, siehe oben I 176). 37 Cap. legg. add. 818—819, c. 1, I 281; Cap. Worm. pro lege hab. v. J. 829, c. 1, II 18. 38 Arg. Cap. Franconofurt. v. J. 794, c. 9, I 75. 39 Siehe oben S. 390 f. 40 Cap. apud Ansegis. servatum 810—811 (?), c. 5, I 160. 41 Lex Fris. 3, 6. 42 Liu. 50. 43 Lex Fris. 14, 3. 44 Lex Fris. 3, 8: iuret uterque solus et ad examinationem ferventis aquae iudicio Dei probandus accedat. Die Stelle wird gewöhnlich von einem zweiseitigen Ordal verstanden (siehe Patetta S. 273), sodaſs beide Teile sich gleichzeitig dem Ordal hätten unterziehen müssen. Aber was geschah, wenn beide Teile sich ver- brannten? Ich glaube, die Stelle in folgender Weise erklären zu können. Der Be- klagte behauptet calumnia des Klägers. Der Kläger schwört dann den Voreid (vgl. die Urk. Pérard S. 148, H. 370), der Beklagte einen Eineid über seine Unschuld. Dann geht zunächst nur dieser zum Ordal (accedat bezieht sich nicht auf uterque, Subjekt ist probandus, nämlich der Beklagte, vgl. Patetta a. O.). Gelang das Or- dal, so hat der Kläger durch Kesselfang die Wahrheit seines Voreides über das 34 eneum, in Lex Sal. 106, 7 Cod. 1 manum ad igneum mittere, die übrigen Codices in aeneum, eneum. Vgl. Zeumers Index zur Lex Rib. s. v. igneum.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/426>, abgerufen am 22.11.2024.