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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 106. Die Gottesurteile.
der Kesselfang ziemlich spät, aber in eigentümlicher Anwendung. Das
oben erwähnte Königsgesetz schreibt ihn vor, um zu entscheiden, ob
ein freier Mann der Tortur unterworfen werden solle, und um die
Glaubwürdigkeit verdächtiger Zeugen zu prüfen 45. Jüngere spanische
Quellen verlangen den Kesselfang oder das Ordal des Handeisens als
Beweismittel der Vaterschaftsklage 46.

Von dem Ordal des Kesselfangs hat sich ein besonderes Ordal
des hängenden Kessels abgezweigt, das uns zwar nicht in gericht-
licher Anwendung, aber durch Ordalienformeln bezeugt ist. Der Kessel
wurde für den Kesselfang über dem Feuer aufgehängt. Begann er,
während das Wasser wallte, sich zu drehen, so war dies natürlich
eine Erschwerung des Ordals, galt für ein schlimmes Omen und mochte
wol den Beweisführer veranlassen, vom Ordal abzustehen. Das führte
schliesslich dahin, dass man das Verhalten des schwebenden Kessels
an sich als selbständiges Ordal verwendete 47.

2. Die Eisenprobe, das Ordal des glühenden Eisens, ferri
igniti, candentis, ferventis, ags. ysen-ordal 48. Es findet sich in zwei
Formen. Erstens, und das ist seine regelmässige Bedeutung, als Ordal
des Handeisens, darin bestehend, dass eine geglühte Eisenmasse von
bestimmtem Gewicht auf eine bestimmte Entfernung (neun Schritte
weit 49) mit blosser Hand getragen werden musste. Nachmals ist es,
namentlich bei den Angelsachsen, Süd- und Nordfriesen im Schwange.
Zweitens als Pflugscharengang, examen vomerum ignitorum. Neun
geglühte Eisen, Pflugscharen, wurden in der Entfernung je eines
Schrittes nebeneinander gelegt, und der Beweisführer musste nackten
Fusses darüber schreiten. Die Eisenordale finden sich als Reinigungs-
mittel für Knechte und Bescholtene 50. Ein Kapitular Karls des
Grossen verlangt den Pflugscharengang im Freiheitsprozess, wenn der-

Absein der Arglist zu erhärten. Vgl. den Vorgang im Gudrunlied, Grimm, RA
S. 923. Es handelt sich in Lex Fris. 3, 8 nicht um einen eigentlichen Fall hand-
hafter That, sondern um einen Fall, wie in Cap. I 160, c. 5, oder in Lex Rib. 41, 3.
Dass jüngere friesische Quellen den Kesselfang als kleineren Streit (lessa strid)
oder als Wasserkampf (weterkamp) bezeichnen, erklärt sich daraus, dass er als Er-
satz des Zweikampfes dient. v. Amira, Recht S. 198.
45 Lex Wisig. VI 1, 3. Dahn, Studien S. 285.
46 Ficker a. O. II 493 f. Derselbe, Erbenfolge S. 167.
47 Zeumer, Formulae S. 601 f. Eine Nachbildung dieses Ordals ist das des
hängenden Psalters. A. O. S. 602.
48 Aethelstan II 23, pr.
49 Kaegi a. O. S. 46. Zu den neun Schritten vgl. Rothari 147 und die, neun
Schritten entsprechenden neun Pflugscharen.
50 Siehe oben S. 391, Anm. 90.

§ 106. Die Gottesurteile.
der Kesselfang ziemlich spät, aber in eigentümlicher Anwendung. Das
oben erwähnte Königsgesetz schreibt ihn vor, um zu entscheiden, ob
ein freier Mann der Tortur unterworfen werden solle, und um die
Glaubwürdigkeit verdächtiger Zeugen zu prüfen 45. Jüngere spanische
Quellen verlangen den Kesselfang oder das Ordal des Handeisens als
Beweismittel der Vaterschaftsklage 46.

Von dem Ordal des Kesselfangs hat sich ein besonderes Ordal
des hängenden Kessels abgezweigt, das uns zwar nicht in gericht-
licher Anwendung, aber durch Ordalienformeln bezeugt ist. Der Kessel
wurde für den Kesselfang über dem Feuer aufgehängt. Begann er,
während das Wasser wallte, sich zu drehen, so war dies natürlich
eine Erschwerung des Ordals, galt für ein schlimmes Omen und mochte
wol den Beweisführer veranlassen, vom Ordal abzustehen. Das führte
schlieſslich dahin, daſs man das Verhalten des schwebenden Kessels
an sich als selbständiges Ordal verwendete 47.

2. Die Eisenprobe, das Ordal des glühenden Eisens, ferri
igniti, candentis, ferventis, ags. ýsen-ordál 48. Es findet sich in zwei
Formen. Erstens, und das ist seine regelmäſsige Bedeutung, als Ordal
des Handeisens, darin bestehend, daſs eine geglühte Eisenmasse von
bestimmtem Gewicht auf eine bestimmte Entfernung (neun Schritte
weit 49) mit bloſser Hand getragen werden muſste. Nachmals ist es,
namentlich bei den Angelsachsen, Süd- und Nordfriesen im Schwange.
Zweitens als Pflugscharengang, examen vomerum ignitorum. Neun
geglühte Eisen, Pflugscharen, wurden in der Entfernung je eines
Schrittes nebeneinander gelegt, und der Beweisführer muſste nackten
Fuſses darüber schreiten. Die Eisenordale finden sich als Reinigungs-
mittel für Knechte und Bescholtene 50. Ein Kapitular Karls des
Groſsen verlangt den Pflugscharengang im Freiheitsprozeſs, wenn der-

Absein der Arglist zu erhärten. Vgl. den Vorgang im Gudrunlied, Grimm, RA
S. 923. Es handelt sich in Lex Fris. 3, 8 nicht um einen eigentlichen Fall hand-
hafter That, sondern um einen Fall, wie in Cap. I 160, c. 5, oder in Lex Rib. 41, 3.
Daſs jüngere friesische Quellen den Kesselfang als kleineren Streit (lessa strid)
oder als Wasserkampf (weterkamp) bezeichnen, erklärt sich daraus, daſs er als Er-
satz des Zweikampfes dient. v. Amira, Recht S. 198.
45 Lex Wisig. VI 1, 3. Dahn, Studien S. 285.
46 Ficker a. O. II 493 f. Derselbe, Erbenfolge S. 167.
47 Zeumer, Formulae S. 601 f. Eine Nachbildung dieses Ordals ist das des
hängenden Psalters. A. O. S. 602.
48 Aethelstan II 23, pr.
49 Kaegi a. O. S. 46. Zu den neun Schritten vgl. Rothari 147 und die, neun
Schritten entsprechenden neun Pflugscharen.
50 Siehe oben S. 391, Anm. 90.
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[409/0427] § 106. Die Gottesurteile. der Kesselfang ziemlich spät, aber in eigentümlicher Anwendung. Das oben erwähnte Königsgesetz schreibt ihn vor, um zu entscheiden, ob ein freier Mann der Tortur unterworfen werden solle, und um die Glaubwürdigkeit verdächtiger Zeugen zu prüfen 45. Jüngere spanische Quellen verlangen den Kesselfang oder das Ordal des Handeisens als Beweismittel der Vaterschaftsklage 46. Von dem Ordal des Kesselfangs hat sich ein besonderes Ordal des hängenden Kessels abgezweigt, das uns zwar nicht in gericht- licher Anwendung, aber durch Ordalienformeln bezeugt ist. Der Kessel wurde für den Kesselfang über dem Feuer aufgehängt. Begann er, während das Wasser wallte, sich zu drehen, so war dies natürlich eine Erschwerung des Ordals, galt für ein schlimmes Omen und mochte wol den Beweisführer veranlassen, vom Ordal abzustehen. Das führte schlieſslich dahin, daſs man das Verhalten des schwebenden Kessels an sich als selbständiges Ordal verwendete 47. 2. Die Eisenprobe, das Ordal des glühenden Eisens, ferri igniti, candentis, ferventis, ags. ýsen-ordál 48. Es findet sich in zwei Formen. Erstens, und das ist seine regelmäſsige Bedeutung, als Ordal des Handeisens, darin bestehend, daſs eine geglühte Eisenmasse von bestimmtem Gewicht auf eine bestimmte Entfernung (neun Schritte weit 49) mit bloſser Hand getragen werden muſste. Nachmals ist es, namentlich bei den Angelsachsen, Süd- und Nordfriesen im Schwange. Zweitens als Pflugscharengang, examen vomerum ignitorum. Neun geglühte Eisen, Pflugscharen, wurden in der Entfernung je eines Schrittes nebeneinander gelegt, und der Beweisführer muſste nackten Fuſses darüber schreiten. Die Eisenordale finden sich als Reinigungs- mittel für Knechte und Bescholtene 50. Ein Kapitular Karls des Groſsen verlangt den Pflugscharengang im Freiheitsprozeſs, wenn der- 44 45 Lex Wisig. VI 1, 3. Dahn, Studien S. 285. 46 Ficker a. O. II 493 f. Derselbe, Erbenfolge S. 167. 47 Zeumer, Formulae S. 601 f. Eine Nachbildung dieses Ordals ist das des hängenden Psalters. A. O. S. 602. 48 Aethelstan II 23, pr. 49 Kaegi a. O. S. 46. Zu den neun Schritten vgl. Rothari 147 und die, neun Schritten entsprechenden neun Pflugscharen. 50 Siehe oben S. 391, Anm. 90. 44 Absein der Arglist zu erhärten. Vgl. den Vorgang im Gudrunlied, Grimm, RA S. 923. Es handelt sich in Lex Fris. 3, 8 nicht um einen eigentlichen Fall hand- hafter That, sondern um einen Fall, wie in Cap. I 160, c. 5, oder in Lex Rib. 41, 3. Daſs jüngere friesische Quellen den Kesselfang als kleineren Streit (lessa strid) oder als Wasserkampf (weterkamp) bezeichnen, erklärt sich daraus, daſs er als Er- satz des Zweikampfes dient. v. Amira, Recht S. 198.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/427>, abgerufen am 20.05.2024.