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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 94. Die Immunität.

Durch kaiserliche Privilegien wurde beschränkte oder unbeschränkte
Immunität auf Besitzungen von Unterthanen übertragen. Insbesondere
kam es vor, dass Grundeigentümer ihr Besitztum mit Vorbehalt des
Niessbrauchs dem princeps oder einem seiner nächsten Angehörigen
übereigneten und dadurch der Immunität teilhaftig wurden 5. Grund-
stücke, die der Kaiser schenkte, behielten mitunter durch besondere
Vergünstigung in den Händen des Beschenkten die Immunität des
Krongutes.

Die Freiheit von ausserordentlichen Abgaben und munera sordida
genossen kraft allgemeinen Rechtssatzes bis 441 sämtliche Kirchen-
güter 6. Doch wurde sie unter dem Druck des damaligen Notstandes
von Valentinian III. ausser Kraft gesetzt 7 und scheint innerhalb des
Abendlandes erst unter Justinian im Bereiche seines Herrschafts-
gebietes wieder aufgelebt zu sein 8. Vereinzelte Kirchen erlangten
durch kaiserliches Privilegium allgemeine Steuerbefreiung: so Thessa-
lonich 9 i. J. 424.

Die auf den kaiserlichen Domänen 10 ansässigen Pächter und Ko-
lonen hatten in Sachen der Gerichtsbarkeit eine Sonderstellung, die
zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene war. Augenscheinlich be-
stand in dieser Beziehung ein dauernder Zwiespalt zwischen den
Interessen und Organen der ordentlichen Provinzialverwaltung einer-
seits, der Hof- und Domänenverwaltung andererseits, ein Zwiespalt,
der in dem Schwanken der Gesetzgebung zum Ausdrucke gelangte.
In Kriminalsachen waren die Domänenbeamten verpflichtet, den In-
sassen der Domäne vor den Provinzialstatthalter zu stellen 11. Dieser

reditus necessitatibus publicis frequentissime deputamus, universos possessores
functiones in canonicis et superindictitiis titulis absque ullius beneficii exceptione
agnoscere oportere censemus. Dass die absolute Immunität noch i. J. 441 be-
stand, lässt Nov. Valent. III. 10, § 1 und § 3 erschliessen. Vgl. Gothofred zu
Nov. Theod. XXI, Anm. k.
5 Nov. Valent. III. 10, § 1 und Gothofreds Bemerkungen zu Nov. Theod.
XXI unter k.
6 Edg. Loening, Kirchenrecht I 231.
7 Nov. Valent. III. 10.
8 Cod. Iust. I 2, 5 anerkennt durch die Aufnahme von Cod. Theod. XVI
2, 40 a. d. J. 412 die kirchliche Freiheit von munera sordida und vom extraordi-
narium superindictitiumve. Über die beschränkte kirchliche Immunität im byzan-
tinischen Reiche siehe Zachariae v. Lingenthal, Gesch. d. griechisch-römi-
schen Rechts, 1877, S. 200.
9 Cod. Theod. XI 1, 33. Cod. Iust. I 2, 8.
10 'Eine principielle Unterscheidung von Fiskal- und Krongut ist für diese
Epoche unmöglich.' Mommsen, Ostgoth. Studien, NA XIV 465, Anm. 4.
11 Cod. Iust. III 26, 8 v. J. 358. Die Inskription ist eine irrtümliche; das
§ 94. Die Immunität.

Durch kaiserliche Privilegien wurde beschränkte oder unbeschränkte
Immunität auf Besitzungen von Unterthanen übertragen. Insbesondere
kam es vor, daſs Grundeigentümer ihr Besitztum mit Vorbehalt des
Nieſsbrauchs dem princeps oder einem seiner nächsten Angehörigen
übereigneten und dadurch der Immunität teilhaftig wurden 5. Grund-
stücke, die der Kaiser schenkte, behielten mitunter durch besondere
Vergünstigung in den Händen des Beschenkten die Immunität des
Krongutes.

Die Freiheit von auſserordentlichen Abgaben und munera sordida
genossen kraft allgemeinen Rechtssatzes bis 441 sämtliche Kirchen-
güter 6. Doch wurde sie unter dem Druck des damaligen Notstandes
von Valentinian III. auſser Kraft gesetzt 7 und scheint innerhalb des
Abendlandes erst unter Justinian im Bereiche seines Herrschafts-
gebietes wieder aufgelebt zu sein 8. Vereinzelte Kirchen erlangten
durch kaiserliches Privilegium allgemeine Steuerbefreiung: so Thessa-
lonich 9 i. J. 424.

Die auf den kaiserlichen Domänen 10 ansässigen Pächter und Ko-
lonen hatten in Sachen der Gerichtsbarkeit eine Sonderstellung, die
zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene war. Augenscheinlich be-
stand in dieser Beziehung ein dauernder Zwiespalt zwischen den
Interessen und Organen der ordentlichen Provinzialverwaltung einer-
seits, der Hof- und Domänenverwaltung andererseits, ein Zwiespalt,
der in dem Schwanken der Gesetzgebung zum Ausdrucke gelangte.
In Kriminalsachen waren die Domänenbeamten verpflichtet, den In-
sassen der Domäne vor den Provinzialstatthalter zu stellen 11. Dieser

reditus necessitatibus publicis frequentissime deputamus, universos possessores
functiones in canonicis et superindictitiis titulis absque ullius beneficii exceptione
agnoscere oportere censemus. Daſs die absolute Immunität noch i. J. 441 be-
stand, läſst Nov. Valent. III. 10, § 1 und § 3 erschlieſsen. Vgl. Gothofred zu
Nov. Theod. XXI, Anm. k.
5 Nov. Valent. III. 10, § 1 und Gothofreds Bemerkungen zu Nov. Theod.
XXI unter k.
6 Edg. Loening, Kirchenrecht I 231.
7 Nov. Valent. III. 10.
8 Cod. Iust. I 2, 5 anerkennt durch die Aufnahme von Cod. Theod. XVI
2, 40 a. d. J. 412 die kirchliche Freiheit von munera sordida und vom extraordi-
narium superindictitiumve. Über die beschränkte kirchliche Immunität im byzan-
tinischen Reiche siehe Zachariae v. Lingenthal, Gesch. d. griechisch-römi-
schen Rechts, 1877, S. 200.
9 Cod. Theod. XI 1, 33. Cod. Iust. I 2, 8.
10 ‘Eine principielle Unterscheidung von Fiskal- und Krongut ist für diese
Epoche unmöglich.’ Mommsen, Ostgoth. Studien, NA XIV 465, Anm. 4.
11 Cod. Iust. III 26, 8 v. J. 358. Die Inskription ist eine irrtümliche; das
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[288/0306] § 94. Die Immunität. Durch kaiserliche Privilegien wurde beschränkte oder unbeschränkte Immunität auf Besitzungen von Unterthanen übertragen. Insbesondere kam es vor, daſs Grundeigentümer ihr Besitztum mit Vorbehalt des Nieſsbrauchs dem princeps oder einem seiner nächsten Angehörigen übereigneten und dadurch der Immunität teilhaftig wurden 5. Grund- stücke, die der Kaiser schenkte, behielten mitunter durch besondere Vergünstigung in den Händen des Beschenkten die Immunität des Krongutes. Die Freiheit von auſserordentlichen Abgaben und munera sordida genossen kraft allgemeinen Rechtssatzes bis 441 sämtliche Kirchen- güter 6. Doch wurde sie unter dem Druck des damaligen Notstandes von Valentinian III. auſser Kraft gesetzt 7 und scheint innerhalb des Abendlandes erst unter Justinian im Bereiche seines Herrschafts- gebietes wieder aufgelebt zu sein 8. Vereinzelte Kirchen erlangten durch kaiserliches Privilegium allgemeine Steuerbefreiung: so Thessa- lonich 9 i. J. 424. Die auf den kaiserlichen Domänen 10 ansässigen Pächter und Ko- lonen hatten in Sachen der Gerichtsbarkeit eine Sonderstellung, die zu verschiedenen Zeiten eine verschiedene war. Augenscheinlich be- stand in dieser Beziehung ein dauernder Zwiespalt zwischen den Interessen und Organen der ordentlichen Provinzialverwaltung einer- seits, der Hof- und Domänenverwaltung andererseits, ein Zwiespalt, der in dem Schwanken der Gesetzgebung zum Ausdrucke gelangte. In Kriminalsachen waren die Domänenbeamten verpflichtet, den In- sassen der Domäne vor den Provinzialstatthalter zu stellen 11. Dieser 4 5 Nov. Valent. III. 10, § 1 und Gothofreds Bemerkungen zu Nov. Theod. XXI unter k. 6 Edg. Loening, Kirchenrecht I 231. 7 Nov. Valent. III. 10. 8 Cod. Iust. I 2, 5 anerkennt durch die Aufnahme von Cod. Theod. XVI 2, 40 a. d. J. 412 die kirchliche Freiheit von munera sordida und vom extraordi- narium superindictitiumve. Über die beschränkte kirchliche Immunität im byzan- tinischen Reiche siehe Zachariae v. Lingenthal, Gesch. d. griechisch-römi- schen Rechts, 1877, S. 200. 9 Cod. Theod. XI 1, 33. Cod. Iust. I 2, 8. 10 ‘Eine principielle Unterscheidung von Fiskal- und Krongut ist für diese Epoche unmöglich.’ Mommsen, Ostgoth. Studien, NA XIV 465, Anm. 4. 11 Cod. Iust. III 26, 8 v. J. 358. Die Inskription ist eine irrtümliche; das 4 reditus necessitatibus publicis frequentissime deputamus, universos possessores functiones in canonicis et superindictitiis titulis absque ullius beneficii exceptione agnoscere oportere censemus. Daſs die absolute Immunität noch i. J. 441 be- stand, läſst Nov. Valent. III. 10, § 1 und § 3 erschlieſsen. Vgl. Gothofred zu Nov. Theod. XXI, Anm. k.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/306>, abgerufen am 19.05.2024.