Dienstpflicht auf die Söhne übergehen 10 und den davon völlig unab- hängigen Benefizien der fränkischen Vassallen fast so ähnlich sehen, wie diese den spätrömischen Privatsoldaten. Das römische Gallien zeigt zur Zeit der fränkischen Eroberung ausgebildete Patronats- oder Schutzver- hältnisse und eine mit Patrimonialgerichtsbarkeit verbundene Grundherr- schaft der grossen Grundbesitzer, der sogenannten potentes, die über zahlreiche Hintersassen gebieten. Nimmt man zu alledem die oben I 229 besprochene Erscheinung erblich gebundener Berufsstände hinzu, so darf man die Behauptung wagen, dass nahezu alles, was am deut- schen Mittelalter unser heutiges Empfinden als fremdartig abstösst, in spätrömischen Verhältnissen entweder seinen geschichtlichen An- knüpfungspunkt oder doch sein geschichtliches Analogon finde. Die skandinavischen Gemeinwesen, die den Einwirkungen der römischen Kultur nicht, oder doch nur sehr spät und nur mittelbar ausgesetzt waren, haben ein Mittelalter im eigentlichen Sinne nicht aufzuweisen, und fast ohne Übergang haben sich in ihnen Altertum und Neuzeit abgelöst.
Jene reichlich vorhandenen Elemente politischer Zersetzung und Auflösung, die das römische Reich in sich barg, wurden niedergehalten durch einen kunstvollen Verwaltungsapparat und ein zum grössten Teile aus Ausländern gebildetes Heer. Denken wir uns diesen Druck hinweg, so würde sich ein Wirrwarr und eine Anarchie ergeben haben, gegen welche die schlimmsten Zeiten des Mittelalters sich als ein Zustand von Zucht und Ordnung abheben müssten.
Der merowingische Staat wurde begründet und erhalten ohne das volksfremde Militärwesen und ohne die komplizierte römische Ver- waltungsmaschine und liess die römische Finanz- und Steuerverfassung verfallen, aus deren Erträgnissen Heer und Bureaukratie bezahlt wor- den waren. Was diese geleistet hatten, leisteten reichlich so gut eine vereinfachte Verwaltung und die unentgeltliche Dienstpflicht der Unter- thanen. Aber so wenig wie die römische Bevölkerung wurden die in deren Lebensverhältnissen liegenden Keime politischer Zersetzung und Auflösung ausgerottet. Die Ungleichartigkeit der Besitzverhältnisse blieb bestehen und griff weiter um sich, ebenso die Abhängigkeit zahlreicher kleiner Leute von Grundherren, Schutzherren und Dienst- herren. Noch waren nicht zwei Jahrhunderte seit der Gründung des Reiches verflossen, so war die geistliche und weltliche Aristokratie der Staatsgewalt über den Kopf gewachsen. Als der Islam die Pyrenäen überschritt, schien das fränkische Reich das Schicksal des westgotischen
10Mommsen, a. a. O. S. 200. Vgl. Fustel de Coulanges, Les Origines du systeme feodal, 1890 S. 7 f.
§ 59. Einleitung.
Dienstpflicht auf die Söhne übergehen 10 und den davon völlig unab- hängigen Benefizien der fränkischen Vassallen fast so ähnlich sehen, wie diese den spätrömischen Privatsoldaten. Das römische Gallien zeigt zur Zeit der fränkischen Eroberung ausgebildete Patronats- oder Schutzver- hältnisse und eine mit Patrimonialgerichtsbarkeit verbundene Grundherr- schaft der groſsen Grundbesitzer, der sogenannten potentes, die über zahlreiche Hintersassen gebieten. Nimmt man zu alledem die oben I 229 besprochene Erscheinung erblich gebundener Berufsstände hinzu, so darf man die Behauptung wagen, daſs nahezu alles, was am deut- schen Mittelalter unser heutiges Empfinden als fremdartig abstöſst, in spätrömischen Verhältnissen entweder seinen geschichtlichen An- knüpfungspunkt oder doch sein geschichtliches Analogon finde. Die skandinavischen Gemeinwesen, die den Einwirkungen der römischen Kultur nicht, oder doch nur sehr spät und nur mittelbar ausgesetzt waren, haben ein Mittelalter im eigentlichen Sinne nicht aufzuweisen, und fast ohne Übergang haben sich in ihnen Altertum und Neuzeit abgelöst.
Jene reichlich vorhandenen Elemente politischer Zersetzung und Auflösung, die das römische Reich in sich barg, wurden niedergehalten durch einen kunstvollen Verwaltungsapparat und ein zum gröſsten Teile aus Ausländern gebildetes Heer. Denken wir uns diesen Druck hinweg, so würde sich ein Wirrwarr und eine Anarchie ergeben haben, gegen welche die schlimmsten Zeiten des Mittelalters sich als ein Zustand von Zucht und Ordnung abheben müssten.
Der merowingische Staat wurde begründet und erhalten ohne das volksfremde Militärwesen und ohne die komplizierte römische Ver- waltungsmaschine und lieſs die römische Finanz- und Steuerverfassung verfallen, aus deren Erträgnissen Heer und Bureaukratie bezahlt wor- den waren. Was diese geleistet hatten, leisteten reichlich so gut eine vereinfachte Verwaltung und die unentgeltliche Dienstpflicht der Unter- thanen. Aber so wenig wie die römische Bevölkerung wurden die in deren Lebensverhältnissen liegenden Keime politischer Zersetzung und Auflösung ausgerottet. Die Ungleichartigkeit der Besitzverhältnisse blieb bestehen und griff weiter um sich, ebenso die Abhängigkeit zahlreicher kleiner Leute von Grundherren, Schutzherren und Dienst- herren. Noch waren nicht zwei Jahrhunderte seit der Gründung des Reiches verflossen, so war die geistliche und weltliche Aristokratie der Staatsgewalt über den Kopf gewachsen. Als der Islam die Pyrenäen überschritt, schien das fränkische Reich das Schicksal des westgotischen
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§ 59. Einleitung.
Dienstpflicht auf die Söhne übergehen 10 und den davon völlig unab-
hängigen Benefizien der fränkischen Vassallen fast so ähnlich sehen, wie
diese den spätrömischen Privatsoldaten. Das römische Gallien zeigt zur
Zeit der fränkischen Eroberung ausgebildete Patronats- oder Schutzver-
hältnisse und eine mit Patrimonialgerichtsbarkeit verbundene Grundherr-
schaft der groſsen Grundbesitzer, der sogenannten potentes, die über
zahlreiche Hintersassen gebieten. Nimmt man zu alledem die oben
I 229 besprochene Erscheinung erblich gebundener Berufsstände hinzu,
so darf man die Behauptung wagen, daſs nahezu alles, was am deut-
schen Mittelalter unser heutiges Empfinden als fremdartig abstöſst,
in spätrömischen Verhältnissen entweder seinen geschichtlichen An-
knüpfungspunkt oder doch sein geschichtliches Analogon finde. Die
skandinavischen Gemeinwesen, die den Einwirkungen der römischen
Kultur nicht, oder doch nur sehr spät und nur mittelbar ausgesetzt
waren, haben ein Mittelalter im eigentlichen Sinne nicht aufzuweisen,
und fast ohne Übergang haben sich in ihnen Altertum und Neuzeit
abgelöst.
Jene reichlich vorhandenen Elemente politischer Zersetzung und
Auflösung, die das römische Reich in sich barg, wurden niedergehalten
durch einen kunstvollen Verwaltungsapparat und ein zum gröſsten
Teile aus Ausländern gebildetes Heer. Denken wir uns diesen Druck
hinweg, so würde sich ein Wirrwarr und eine Anarchie ergeben haben,
gegen welche die schlimmsten Zeiten des Mittelalters sich als ein
Zustand von Zucht und Ordnung abheben müssten.
Der merowingische Staat wurde begründet und erhalten ohne das
volksfremde Militärwesen und ohne die komplizierte römische Ver-
waltungsmaschine und lieſs die römische Finanz- und Steuerverfassung
verfallen, aus deren Erträgnissen Heer und Bureaukratie bezahlt wor-
den waren. Was diese geleistet hatten, leisteten reichlich so gut eine
vereinfachte Verwaltung und die unentgeltliche Dienstpflicht der Unter-
thanen. Aber so wenig wie die römische Bevölkerung wurden die in
deren Lebensverhältnissen liegenden Keime politischer Zersetzung und
Auflösung ausgerottet. Die Ungleichartigkeit der Besitzverhältnisse
blieb bestehen und griff weiter um sich, ebenso die Abhängigkeit
zahlreicher kleiner Leute von Grundherren, Schutzherren und Dienst-
herren. Noch waren nicht zwei Jahrhunderte seit der Gründung des
Reiches verflossen, so war die geistliche und weltliche Aristokratie der
Staatsgewalt über den Kopf gewachsen. Als der Islam die Pyrenäen
überschritt, schien das fränkische Reich das Schicksal des westgotischen
10 Mommsen, a. a. O. S. 200. Vgl. Fustel de Coulanges, Les Origines
du système féodal, 1890 S. 7 f.
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/24>, abgerufen am 24.11.2024.
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