auf Massregeln, durch welche die Karolinger die Restauration der in Auflösung begriffenen Staatsgewalt und die Sicherung des Reiches gegen äussere Feinde bewerkstelligten. Die Mittel dazu gewährte das Aufgebot von Kräften, über die das merowingische Königtum noch nicht oder doch nicht in diesem Umfange verfügt hatte, die Heranziehung des Kirchengutes und der Kirche zu den unmittelbaren Staatsaufgaben und die ausgedehnte politische Verwertung der Keime des Lehn- wesens, der Vassallität und der Benefizienverleihung, umwälzende Ereignisse, die, wie die folgende Darstellung ergeben wird, in ihrem Beginn und in ihrer Entwicklung aufs innigste zusammenhängen.
Die geschichtliche Betrachtung darf sich nicht damit begnügen, die Anfänge des mittelalterlichen Lehnsstaates bis in die karolingische Zeit zurückzuverfolgen und etwa die karolingischen Hausmeier ver- antwortlich zu machen für Siechtum und Ohnmacht des römischen Reiches deutscher Nation. Forscht man nach den Ursachen der politischen Lage, welche die kräftigen Karolinger veranlasste jene Geister zu Hülfe zu rufen, die ihre schwächeren Nachfolger nicht mehr zu bändigen vermochten, so ist man zurückzudringen genötigt bis zu den staatsrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen des spätrömischen Kaiserreiches.
Die Weltgeschichte arbeitet mit alten Gedanken und prägt sie in neue Form. Das mittelalterliche Kaisertum war bekanntlich eine Nachahmung des spätrömischen Kaisertums, eine Kopie, die freilich minder genau ausfiel, als sein Begründer, Karl der Grosse, gewollt hatte. Die mittelalterliche Auffassung betrachtete es gewissermassen als ein vom Papste restituiertes Fideikommiss des römischen Welt- reiches. Dass diesem die Organisation der römischkatholischen Kirche entstammt, ist allbekannt und sagt schon ihr Name. Aber auch ein- zelne charakteristische Züge des Lehnsstaates und des sogenannten Feudalismus finden in den spätrömischen Zuständen ein auffallendes Seitenstück oder Vorbild. Das römische Kaiserreich hat eine mächtige Beamtenaristokratie, nicht frei von Anwandlungen des Strebens nach territorialer Selbständigkeit. Es kennt die neuerdings wissenschaft- lich aufgehellte Institution berittener Privatsoldaten, die ihrem Herrn einen Treueid schwören 9. Angesiedelte Grenztruppen, die sogenannten milites castellani, besitzen unveräusserliche Grundstücke, die mit der
9Mommsen, Das römische Militärwesen seit Diocletian, Hermes XXIV 233. Auf das römische Privatsoldatentum scheint das germanische Gefolgswesen ein- gewirkt zu haben. Unbedingt darf das von den westgotischen bucellarii behauptet werden. Siehe unten § 92.
§ 59. Einleitung.
auf Maſsregeln, durch welche die Karolinger die Restauration der in Auflösung begriffenen Staatsgewalt und die Sicherung des Reiches gegen äuſsere Feinde bewerkstelligten. Die Mittel dazu gewährte das Aufgebot von Kräften, über die das merowingische Königtum noch nicht oder doch nicht in diesem Umfange verfügt hatte, die Heranziehung des Kirchengutes und der Kirche zu den unmittelbaren Staatsaufgaben und die ausgedehnte politische Verwertung der Keime des Lehn- wesens, der Vassallität und der Benefizienverleihung, umwälzende Ereignisse, die, wie die folgende Darstellung ergeben wird, in ihrem Beginn und in ihrer Entwicklung aufs innigste zusammenhängen.
Die geschichtliche Betrachtung darf sich nicht damit begnügen, die Anfänge des mittelalterlichen Lehnsstaates bis in die karolingische Zeit zurückzuverfolgen und etwa die karolingischen Hausmeier ver- antwortlich zu machen für Siechtum und Ohnmacht des römischen Reiches deutscher Nation. Forscht man nach den Ursachen der politischen Lage, welche die kräftigen Karolinger veranlaſste jene Geister zu Hülfe zu rufen, die ihre schwächeren Nachfolger nicht mehr zu bändigen vermochten, so ist man zurückzudringen genötigt bis zu den staatsrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen des spätrömischen Kaiserreiches.
Die Weltgeschichte arbeitet mit alten Gedanken und prägt sie in neue Form. Das mittelalterliche Kaisertum war bekanntlich eine Nachahmung des spätrömischen Kaisertums, eine Kopie, die freilich minder genau ausfiel, als sein Begründer, Karl der Groſse, gewollt hatte. Die mittelalterliche Auffassung betrachtete es gewissermaſsen als ein vom Papste restituiertes Fideikommiſs des römischen Welt- reiches. Daſs diesem die Organisation der römischkatholischen Kirche entstammt, ist allbekannt und sagt schon ihr Name. Aber auch ein- zelne charakteristische Züge des Lehnsstaates und des sogenannten Feudalismus finden in den spätrömischen Zuständen ein auffallendes Seitenstück oder Vorbild. Das römische Kaiserreich hat eine mächtige Beamtenaristokratie, nicht frei von Anwandlungen des Strebens nach territorialer Selbständigkeit. Es kennt die neuerdings wissenschaft- lich aufgehellte Institution berittener Privatsoldaten, die ihrem Herrn einen Treueid schwören 9. Angesiedelte Grenztruppen, die sogenannten milites castellani, besitzen unveräuſserliche Grundstücke, die mit der
9Mommsen, Das römische Militärwesen seit Diocletian, Hermes XXIV 233. Auf das römische Privatsoldatentum scheint das germanische Gefolgswesen ein- gewirkt zu haben. Unbedingt darf das von den westgotischen bucellarii behauptet werden. Siehe unten § 92.
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§ 59. Einleitung.
auf Maſsregeln, durch welche die Karolinger die Restauration der in
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gegen äuſsere Feinde bewerkstelligten. Die Mittel dazu gewährte das
Aufgebot von Kräften, über die das merowingische Königtum noch
nicht oder doch nicht in diesem Umfange verfügt hatte, die Heranziehung
des Kirchengutes und der Kirche zu den unmittelbaren Staatsaufgaben
und die ausgedehnte politische Verwertung der Keime des Lehn-
wesens, der Vassallität und der Benefizienverleihung, umwälzende
Ereignisse, die, wie die folgende Darstellung ergeben wird, in ihrem
Beginn und in ihrer Entwicklung aufs innigste zusammenhängen.
Die geschichtliche Betrachtung darf sich nicht damit begnügen,
die Anfänge des mittelalterlichen Lehnsstaates bis in die karolingische
Zeit zurückzuverfolgen und etwa die karolingischen Hausmeier ver-
antwortlich zu machen für Siechtum und Ohnmacht des römischen
Reiches deutscher Nation. Forscht man nach den Ursachen der
politischen Lage, welche die kräftigen Karolinger veranlaſste jene
Geister zu Hülfe zu rufen, die ihre schwächeren Nachfolger nicht
mehr zu bändigen vermochten, so ist man zurückzudringen genötigt
bis zu den staatsrechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zuständen
des spätrömischen Kaiserreiches.
Die Weltgeschichte arbeitet mit alten Gedanken und prägt sie
in neue Form. Das mittelalterliche Kaisertum war bekanntlich eine
Nachahmung des spätrömischen Kaisertums, eine Kopie, die freilich
minder genau ausfiel, als sein Begründer, Karl der Groſse, gewollt
hatte. Die mittelalterliche Auffassung betrachtete es gewissermaſsen
als ein vom Papste restituiertes Fideikommiſs des römischen Welt-
reiches. Daſs diesem die Organisation der römischkatholischen Kirche
entstammt, ist allbekannt und sagt schon ihr Name. Aber auch ein-
zelne charakteristische Züge des Lehnsstaates und des sogenannten
Feudalismus finden in den spätrömischen Zuständen ein auffallendes
Seitenstück oder Vorbild. Das römische Kaiserreich hat eine mächtige
Beamtenaristokratie, nicht frei von Anwandlungen des Strebens nach
territorialer Selbständigkeit. Es kennt die neuerdings wissenschaft-
lich aufgehellte Institution berittener Privatsoldaten, die ihrem Herrn
einen Treueid schwören 9. Angesiedelte Grenztruppen, die sogenannten
milites castellani, besitzen unveräuſserliche Grundstücke, die mit der
9 Mommsen, Das römische Militärwesen seit Diocletian, Hermes XXIV 233.
Auf das römische Privatsoldatentum scheint das germanische Gefolgswesen ein-
gewirkt zu haben. Unbedingt darf das von den westgotischen bucellarii behauptet
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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/23>, abgerufen am 24.11.2024.
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