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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 58. Die Formelsammlungen.
aus welchen der Verfasser die individuellen Beziehungen nicht durch-
gängig tilgte. Die Sammlung ist uns in einer vermutlich aus Tours
stammenden Handschrift überliefert, und zwar ist sie in der Schnell-
schrift des Altertums, in tironischen Noten geschrieben49.

III. Alamannische Formelsammlungen.

Wie uns die Vorschriften der Lex Alamannorum und zahlreiche
Urkunden des achten Jahrhunderts beweisen, hatte Schwaben ein früh
entwickeltes Urkundenwesen. Doch fehlt es an Formelsammlungen
aus älterer Zeit. Die Urkunden wurden hier bis ins neunte Jahr-
hundert vorzugsweise von den Gerichtsschreibern abgefasst, deren For-
melbücher uns nicht erhalten sind. Erst seit dem neunten Jahrhundert,
als die Klöster anfingen die Geschäftsurkunden durch ihre eigenen
officiales schreiben zu lassen, entstand in kirchlichen Kreisen ein leb-
hafteres Bedürfnis nach Anlegung von Formelsammlungen50. Hervor-
zuheben sind

1. Die Formulae Morbacenses51, eine in dem elsässischen
Kloster Murbach entstandene Sammlung von indiculi und epistolae,
deren Kern (1--26) den Jahren 774--791 angehört.

2. Die Formulae Augienses52, drei im Kloster Reichenau ent-
standene Sammlungen verschiedener Entstehungszeit. Collectio A,
hauptsächlich Eingangs- und Schlussformeln für Urkunden enthaltend,
ist mit Benutzung Marculfs wahrscheinlich gegen Ende des achten
Jahrhunderts abgefasst worden. Grössere rechtsgeschichtliche Ausbeute
gewährt Collectio B, deren Grundstock, eine Sammlung von Mustern
für Traditionsurkunden und Prekarien (1--12), dem achten Jahr-
hundert angehört. Die übrigen Stücke (13--43) sind in der Zeit vom
Ausgang des achten bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts hinzu-
gefügt worden53. Collectio C ist eine Sammlung von Reichenauer Brief-
formeln aus den Jahren 823--844.

49 Sie wurde zuerst von Carpentier herausgegeben und daher auch als Samm-
lung der Carpentierschen Formeln bezeichnet. Auf Grund sorgfältiger Entzifferung
der Handschrift durch W. Schmitz hat sie Zeumer a. O. aufs neue ediert.
Ungefähr gleichzeitig erschien ein Faksimiledruck, Monumenta tachygraphica codicis
Parisiensis latini 2718 transcripsit, adnotavit, edidit Guil. Schmitz, fasciculus
prior formulas et capitulare Ludovici Pii Aquisgranense continens; adiectae sunt
XXII tabulae phototypae notarum Tironianarum simulacra exhibentes, 1882.
50 Zeumer, Archiv VIII 475. Bresslau, Forschungen XXVI 40 ff.
51 Zeumer S 330.
52 Zeumer S 342.
53 Die Formeln 44--46 sind Zusatzformeln einer erst neuerdings aufgefundenen
Handschrift und bei Zeumer S 724 als Nachtrag abgedruckt.

§ 58. Die Formelsammlungen.
aus welchen der Verfasser die individuellen Beziehungen nicht durch-
gängig tilgte. Die Sammlung ist uns in einer vermutlich aus Tours
stammenden Handschrift überliefert, und zwar ist sie in der Schnell-
schrift des Altertums, in tironischen Noten geschrieben49.

III. Alamannische Formelsammlungen.

Wie uns die Vorschriften der Lex Alamannorum und zahlreiche
Urkunden des achten Jahrhunderts beweisen, hatte Schwaben ein früh
entwickeltes Urkundenwesen. Doch fehlt es an Formelsammlungen
aus älterer Zeit. Die Urkunden wurden hier bis ins neunte Jahr-
hundert vorzugsweise von den Gerichtsschreibern abgefaſst, deren For-
melbücher uns nicht erhalten sind. Erst seit dem neunten Jahrhundert,
als die Klöster anfingen die Geschäftsurkunden durch ihre eigenen
officiales schreiben zu lassen, entstand in kirchlichen Kreisen ein leb-
hafteres Bedürfnis nach Anlegung von Formelsammlungen50. Hervor-
zuheben sind

1. Die Formulae Morbacenses51, eine in dem elsässischen
Kloster Murbach entstandene Sammlung von indiculi und epistolae,
deren Kern (1—26) den Jahren 774—791 angehört.

2. Die Formulae Augienses52, drei im Kloster Reichenau ent-
standene Sammlungen verschiedener Entstehungszeit. Collectio A,
hauptsächlich Eingangs- und Schluſsformeln für Urkunden enthaltend,
ist mit Benutzung Marculfs wahrscheinlich gegen Ende des achten
Jahrhunderts abgefaſst worden. Gröſsere rechtsgeschichtliche Ausbeute
gewährt Collectio B, deren Grundstock, eine Sammlung von Mustern
für Traditionsurkunden und Prekarien (1—12), dem achten Jahr-
hundert angehört. Die übrigen Stücke (13—43) sind in der Zeit vom
Ausgang des achten bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts hinzu-
gefügt worden53. Collectio C ist eine Sammlung von Reichenauer Brief-
formeln aus den Jahren 823—844.

49 Sie wurde zuerst von Carpentier herausgegeben und daher auch als Samm-
lung der Carpentierschen Formeln bezeichnet. Auf Grund sorgfältiger Entzifferung
der Handschrift durch W. Schmitz hat sie Zeumer a. O. aufs neue ediert.
Ungefähr gleichzeitig erschien ein Faksimiledruck, Monumenta tachygraphica codicis
Parisiensis latini 2718 transcripsit, adnotavit, edidit Guil. Schmitz, fasciculus
prior formulas et capitulare Ludovici Pii Aquisgranense continens; adiectae sunt
XXII tabulae phototypae notarum Tironianarum simulacra exhibentes, 1882.
50 Zeumer, Archiv VIII 475. Breſslau, Forschungen XXVI 40 ff.
51 Zeumer S 330.
52 Zeumer S 342.
53 Die Formeln 44—46 sind Zusatzformeln einer erst neuerdings aufgefundenen
Handschrift und bei Zeumer S 724 als Nachtrag abgedruckt.
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[410/0428] § 58. Die Formelsammlungen. aus welchen der Verfasser die individuellen Beziehungen nicht durch- gängig tilgte. Die Sammlung ist uns in einer vermutlich aus Tours stammenden Handschrift überliefert, und zwar ist sie in der Schnell- schrift des Altertums, in tironischen Noten geschrieben 49. III. Alamannische Formelsammlungen. Wie uns die Vorschriften der Lex Alamannorum und zahlreiche Urkunden des achten Jahrhunderts beweisen, hatte Schwaben ein früh entwickeltes Urkundenwesen. Doch fehlt es an Formelsammlungen aus älterer Zeit. Die Urkunden wurden hier bis ins neunte Jahr- hundert vorzugsweise von den Gerichtsschreibern abgefaſst, deren For- melbücher uns nicht erhalten sind. Erst seit dem neunten Jahrhundert, als die Klöster anfingen die Geschäftsurkunden durch ihre eigenen officiales schreiben zu lassen, entstand in kirchlichen Kreisen ein leb- hafteres Bedürfnis nach Anlegung von Formelsammlungen 50. Hervor- zuheben sind 1. Die Formulae Morbacenses 51, eine in dem elsässischen Kloster Murbach entstandene Sammlung von indiculi und epistolae, deren Kern (1—26) den Jahren 774—791 angehört. 2. Die Formulae Augienses 52, drei im Kloster Reichenau ent- standene Sammlungen verschiedener Entstehungszeit. Collectio A, hauptsächlich Eingangs- und Schluſsformeln für Urkunden enthaltend, ist mit Benutzung Marculfs wahrscheinlich gegen Ende des achten Jahrhunderts abgefaſst worden. Gröſsere rechtsgeschichtliche Ausbeute gewährt Collectio B, deren Grundstock, eine Sammlung von Mustern für Traditionsurkunden und Prekarien (1—12), dem achten Jahr- hundert angehört. Die übrigen Stücke (13—43) sind in der Zeit vom Ausgang des achten bis zur Mitte des neunten Jahrhunderts hinzu- gefügt worden 53. Collectio C ist eine Sammlung von Reichenauer Brief- formeln aus den Jahren 823—844. 49 Sie wurde zuerst von Carpentier herausgegeben und daher auch als Samm- lung der Carpentierschen Formeln bezeichnet. Auf Grund sorgfältiger Entzifferung der Handschrift durch W. Schmitz hat sie Zeumer a. O. aufs neue ediert. Ungefähr gleichzeitig erschien ein Faksimiledruck, Monumenta tachygraphica codicis Parisiensis latini 2718 transcripsit, adnotavit, edidit Guil. Schmitz, fasciculus prior formulas et capitulare Ludovici Pii Aquisgranense continens; adiectae sunt XXII tabulae phototypae notarum Tironianarum simulacra exhibentes, 1882. 50 Zeumer, Archiv VIII 475. Breſslau, Forschungen XXVI 40 ff. 51 Zeumer S 330. 52 Zeumer S 342. 53 Die Formeln 44—46 sind Zusatzformeln einer erst neuerdings aufgefundenen Handschrift und bei Zeumer S 724 als Nachtrag abgedruckt.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/428>, abgerufen am 03.05.2024.