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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 28. Die Sippe.
Erschöpfung seines ganzen beweglichen Vermögens nicht aufzubringen
vermag. Er kann dann durch Abtretung seines Hofes die Magen zur
Zahlung des ungetilgten Restes heranziehen und zwar je drei Genera-
tionen der Vater- und Muttermagschaft. Ist die Sippe der lebenden Hand
nicht imstande, das Defizit zu decken, so muss sie den Thäter an den
Wergeldgläubiger ausliefern, der ihn töten darf, wenn ihn niemand
auslöst 17. Vermutlich beschränkte sich diese subsidiäre Haftung auf
die Erbenbusse, während die Magbusse von vorneherein durch die
Verwandten des Totschlägers aufzubringen war, wie dies in
flandrischen, seeländischen und holländischen Quellen der folgenden
Periode Rechtens ist.

Die Volksrechte der Ribuarier und der Oberdeutschen bieten
keinerlei Anhaltspunkte für eine Wergeldhaftung der Magschaft; hier
scheint die Wergeldschuld von Rechtswegen bereits nur noch Sache
des Totschlägers und seiner Hausgenossenschaft gewesen zu sein.

Im wirklichen Leben ging die Teilnahme der Verwandten noch
über ihre rechtlichen Pflichten hinaus. Räuber und Verbrecher über-
haupt, die ausserstande sind, die ihnen zuerkannte Strafe abzulösen
oder die Unthat zu sühnen, müssen nach dem salischen Rechte des
sechsten Jahrhunderts an mehreren Gerichtstagen den Verwandten
zur Auslösung angeboten werden, ehe sie mit dem Tode bestraft
oder ihren Feinden ausgeliefert werden 18. Racheübung und Wergeld-
schuld der Verwandten dringen sogar in die Kreise der Unfreien ein,
bei welchen sie das Volksrecht schlechterdings nicht kannte 19. Auch
die römische Bevölkerung wurde durch das Fehdewesen erfasst. Es
ist eine Anwendung römischer Rechtssätze auf eine germanische Rechts-
anschauung, wenn uns in einer Quelle berichtet wird, dass die Söhne
eines angeblichen Herzogs Sadregiselus gemäss römischem Rechte die
väterliche Erbschaft einbüssten, weil sie es versäumt hätten, für die
Tötung ihres Vaters Vergeltung zu suchen 20.

17 Lex Sal. 58.
18 Pactus Child. I et Chloth. I c. 2, Cap. I 5; Ed. Chilp. c. 8, Cap. I 10.
19 Ein Brief Einhards aus Seligenstadt von 828--840 (Jaffe, Epistolae Ein-
hardi in Mon. Carol. bibl. rer. Germ. IV 469 ff. Nr 43) berichtet, es seien zwei
servi des heiligen Martinus aus der villa Hedabahc (Heidebach) nach Seligenstadt
in eine Kirche geflüchtet, weil ihr Bruder einen ihrer Genossen erschlug; sie bitten,
dass es ihnen gestattet werde für den Bruder das Wergeld des Erschlagenen zu
zahlen et ut ei membra perdonentur. Die Flucht der Brüder erklärt sich nur daraus,
dass sie sich der Blutrache ausgesetzt fühlten. Der Schauplatz der Erzählung sind
die unteren Maingegenden; sie erinnert an die Geschlechtsfehden der Knechte,
welche in den leges et statuta Burchardi c. 30 mit grellen Farben geschildert werden.
20 So die Gesta Dagoberti c. 35, eine Kompilation des 9. Jahrhunderts, deren

§ 28. Die Sippe.
Erschöpfung seines ganzen beweglichen Vermögens nicht aufzubringen
vermag. Er kann dann durch Abtretung seines Hofes die Magen zur
Zahlung des ungetilgten Restes heranziehen und zwar je drei Genera-
tionen der Vater- und Muttermagschaft. Ist die Sippe der lebenden Hand
nicht imstande, das Defizit zu decken, so muſs sie den Thäter an den
Wergeldgläubiger ausliefern, der ihn töten darf, wenn ihn niemand
auslöst 17. Vermutlich beschränkte sich diese subsidiäre Haftung auf
die Erbenbuſse, während die Magbuſse von vorneherein durch die
Verwandten des Totschlägers aufzubringen war, wie dies in
flandrischen, seeländischen und holländischen Quellen der folgenden
Periode Rechtens ist.

Die Volksrechte der Ribuarier und der Oberdeutschen bieten
keinerlei Anhaltspunkte für eine Wergeldhaftung der Magschaft; hier
scheint die Wergeldschuld von Rechtswegen bereits nur noch Sache
des Totschlägers und seiner Hausgenossenschaft gewesen zu sein.

Im wirklichen Leben ging die Teilnahme der Verwandten noch
über ihre rechtlichen Pflichten hinaus. Räuber und Verbrecher über-
haupt, die auſserstande sind, die ihnen zuerkannte Strafe abzulösen
oder die Unthat zu sühnen, müssen nach dem salischen Rechte des
sechsten Jahrhunderts an mehreren Gerichtstagen den Verwandten
zur Auslösung angeboten werden, ehe sie mit dem Tode bestraft
oder ihren Feinden ausgeliefert werden 18. Racheübung und Wergeld-
schuld der Verwandten dringen sogar in die Kreise der Unfreien ein,
bei welchen sie das Volksrecht schlechterdings nicht kannte 19. Auch
die römische Bevölkerung wurde durch das Fehdewesen erfaſst. Es
ist eine Anwendung römischer Rechtssätze auf eine germanische Rechts-
anschauung, wenn uns in einer Quelle berichtet wird, daſs die Söhne
eines angeblichen Herzogs Sadregiselus gemäſs römischem Rechte die
väterliche Erbschaft einbüſsten, weil sie es versäumt hätten, für die
Tötung ihres Vaters Vergeltung zu suchen 20.

17 Lex Sal. 58.
18 Pactus Child. I et Chloth. I c. 2, Cap. I 5; Ed. Chilp. c. 8, Cap. I 10.
19 Ein Brief Einhards aus Seligenstadt von 828—840 (Jaffé, Epistolae Ein-
hardi in Mon. Carol. bibl. rer. Germ. IV 469 ff. Nr 43) berichtet, es seien zwei
servi des heiligen Martinus aus der villa Hedabahc (Heidebach) nach Seligenstadt
in eine Kirche geflüchtet, weil ihr Bruder einen ihrer Genossen erschlug; sie bitten,
daſs es ihnen gestattet werde für den Bruder das Wergeld des Erschlagenen zu
zahlen et ut ei membra perdonentur. Die Flucht der Brüder erklärt sich nur daraus,
daſs sie sich der Blutrache ausgesetzt fühlten. Der Schauplatz der Erzählung sind
die unteren Maingegenden; sie erinnert an die Geschlechtsfehden der Knechte,
welche in den leges et statuta Burchardi c. 30 mit grellen Farben geschildert werden.
20 So die Gesta Dagoberti c. 35, eine Kompilation des 9. Jahrhunderts, deren
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[220/0238] § 28. Die Sippe. Erschöpfung seines ganzen beweglichen Vermögens nicht aufzubringen vermag. Er kann dann durch Abtretung seines Hofes die Magen zur Zahlung des ungetilgten Restes heranziehen und zwar je drei Genera- tionen der Vater- und Muttermagschaft. Ist die Sippe der lebenden Hand nicht imstande, das Defizit zu decken, so muſs sie den Thäter an den Wergeldgläubiger ausliefern, der ihn töten darf, wenn ihn niemand auslöst 17. Vermutlich beschränkte sich diese subsidiäre Haftung auf die Erbenbuſse, während die Magbuſse von vorneherein durch die Verwandten des Totschlägers aufzubringen war, wie dies in flandrischen, seeländischen und holländischen Quellen der folgenden Periode Rechtens ist. Die Volksrechte der Ribuarier und der Oberdeutschen bieten keinerlei Anhaltspunkte für eine Wergeldhaftung der Magschaft; hier scheint die Wergeldschuld von Rechtswegen bereits nur noch Sache des Totschlägers und seiner Hausgenossenschaft gewesen zu sein. Im wirklichen Leben ging die Teilnahme der Verwandten noch über ihre rechtlichen Pflichten hinaus. Räuber und Verbrecher über- haupt, die auſserstande sind, die ihnen zuerkannte Strafe abzulösen oder die Unthat zu sühnen, müssen nach dem salischen Rechte des sechsten Jahrhunderts an mehreren Gerichtstagen den Verwandten zur Auslösung angeboten werden, ehe sie mit dem Tode bestraft oder ihren Feinden ausgeliefert werden 18. Racheübung und Wergeld- schuld der Verwandten dringen sogar in die Kreise der Unfreien ein, bei welchen sie das Volksrecht schlechterdings nicht kannte 19. Auch die römische Bevölkerung wurde durch das Fehdewesen erfaſst. Es ist eine Anwendung römischer Rechtssätze auf eine germanische Rechts- anschauung, wenn uns in einer Quelle berichtet wird, daſs die Söhne eines angeblichen Herzogs Sadregiselus gemäſs römischem Rechte die väterliche Erbschaft einbüſsten, weil sie es versäumt hätten, für die Tötung ihres Vaters Vergeltung zu suchen 20. 17 Lex Sal. 58. 18 Pactus Child. I et Chloth. I c. 2, Cap. I 5; Ed. Chilp. c. 8, Cap. I 10. 19 Ein Brief Einhards aus Seligenstadt von 828—840 (Jaffé, Epistolae Ein- hardi in Mon. Carol. bibl. rer. Germ. IV 469 ff. Nr 43) berichtet, es seien zwei servi des heiligen Martinus aus der villa Hedabahc (Heidebach) nach Seligenstadt in eine Kirche geflüchtet, weil ihr Bruder einen ihrer Genossen erschlug; sie bitten, daſs es ihnen gestattet werde für den Bruder das Wergeld des Erschlagenen zu zahlen et ut ei membra perdonentur. Die Flucht der Brüder erklärt sich nur daraus, daſs sie sich der Blutrache ausgesetzt fühlten. Der Schauplatz der Erzählung sind die unteren Maingegenden; sie erinnert an die Geschlechtsfehden der Knechte, welche in den leges et statuta Burchardi c. 30 mit grellen Farben geschildert werden. 20 So die Gesta Dagoberti c. 35, eine Kompilation des 9. Jahrhunderts, deren

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/238>, abgerufen am 23.11.2024.