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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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war, und müssen aus diesem Grunde um so aufmerksamer
darauf achten, ob und wie weit sich ein Zusammenhang oder
eine folgerechte Entwickelung der vorigen Periode auch in der
jetzigen nachweisen lasse.

Die beste Gelegenheit dazu bietet die Statue des soge-
nannten borghesischen Fechters von Agasias, dem Sohne des
Dositheos aus Ephesos: ein Werk, welches sich uns schon
beim ersten Blicke als von nicht gewöhnlicher Art darstellt.
Freilich lässt sich über die verschiedenen Beziehungen, welche
den Künstler bei der Composition geleitet haben, keineswegs
bestimmt urtheilen; denn offenbar ist die Statue nur der Theil
eines grösseren Ganzen. Sollte sie aber selbst nur eine Art
akademischer Studienfigur sein, so müsste doch auch in diesem
Falle dem Künstler eine bestimmte Handlung wenigstens in
der Phantasie vorgeschwebt haben. Indessen auf eine bestimmte
Benennung kann es gerade bei diesen Untersuchungen weniger
ankommen1). Das Grundmotiv der ganzen Handlung spricht
sich in dem Werke selbst mit hinlänglicher Klarheit aus: ein
Krieger befindet sich im Kampfe mit einem Feinde, der ihm
von einem höheren Standpunkte aus, wahrscheinlich zu Ross,
Widerstand leistet; und durch diesen Vortheil des Gegners bietet
die Deckung gegen dessen Schläge nicht geringere Schwierig-
keiten, als das Erspähen der Gelegenheit eines wirksamen
Angriffs. Die ganze Bildung ist nicht göttlich, aber eben so
wenig Portrait, mehr ein Krieger in allgemein idealer Auf-
fassung. Ein pathetisch tragisches Interesse, wie etwa beim
Laokoon, wird also hier nicht in Anspruch genommen; und
eben so wenig strebt der Künstler nach der erschütternden
Wirkung, welche sich in dem Untergange der wildanstürmen-
den Gallier offenbart. Die geistige Bedeutung geht nicht über
die dargestellte Handlung hinaus, welche allerdings Umsicht
im Kampfe, aber noch mehr grosse Entfaltung körperlicher
Kraft und Gewandtheit erheischt. Wie aber diese Eigenschaf-
ten im Leben an die Beobachtung bestimmter Regeln gebunden
sind, so mussten sie auch in dem Kunstwerke sich in geregel-
ter Weise äussern. Das Kunstwerk verlangt vor Allem, dass

1) Wer daran erinnert, dass Lessing im Laokoon den Namen Chabrias
vorgeschlagen hat, der sollte nie vergessen anzuführen, dass Lessing selbst
in den antiquarischen Briefen seinen Irrthum erkannt und aufs Glänzendste
widerlegt hat.
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 37

war, und müssen aus diesem Grunde um so aufmerksamer
darauf achten, ob und wie weit sich ein Zusammenhang oder
eine folgerechte Entwickelung der vorigen Periode auch in der
jetzigen nachweisen lasse.

Die beste Gelegenheit dazu bietet die Statue des soge-
nannten borghesischen Fechters von Agasias, dem Sohne des
Dositheos aus Ephesos: ein Werk, welches sich uns schon
beim ersten Blicke als von nicht gewöhnlicher Art darstellt.
Freilich lässt sich über die verschiedenen Beziehungen, welche
den Künstler bei der Composition geleitet haben, keineswegs
bestimmt urtheilen; denn offenbar ist die Statue nur der Theil
eines grösseren Ganzen. Sollte sie aber selbst nur eine Art
akademischer Studienfigur sein, so müsste doch auch in diesem
Falle dem Künstler eine bestimmte Handlung wenigstens in
der Phantasie vorgeschwebt haben. Indessen auf eine bestimmte
Benennung kann es gerade bei diesen Untersuchungen weniger
ankommen1). Das Grundmotiv der ganzen Handlung spricht
sich in dem Werke selbst mit hinlänglicher Klarheit aus: ein
Krieger befindet sich im Kampfe mit einem Feinde, der ihm
von einem höheren Standpunkte aus, wahrscheinlich zu Ross,
Widerstand leistet; und durch diesen Vortheil des Gegners bietet
die Deckung gegen dessen Schläge nicht geringere Schwierig-
keiten, als das Erspähen der Gelegenheit eines wirksamen
Angriffs. Die ganze Bildung ist nicht göttlich, aber eben so
wenig Portrait, mehr ein Krieger in allgemein idealer Auf-
fassung. Ein pathetisch tragisches Interesse, wie etwa beim
Laokoon, wird also hier nicht in Anspruch genommen; und
eben so wenig strebt der Künstler nach der erschütternden
Wirkung, welche sich in dem Untergange der wildanstürmen-
den Gallier offenbart. Die geistige Bedeutung geht nicht über
die dargestellte Handlung hinaus, welche allerdings Umsicht
im Kampfe, aber noch mehr grosse Entfaltung körperlicher
Kraft und Gewandtheit erheischt. Wie aber diese Eigenschaf-
ten im Leben an die Beobachtung bestimmter Regeln gebunden
sind, so mussten sie auch in dem Kunstwerke sich in geregel-
ter Weise äussern. Das Kunstwerk verlangt vor Allem, dass

1) Wer daran erinnert, dass Lessing im Laokoon den Namen Chabrias
vorgeschlagen hat, der sollte nie vergessen anzuführen, dass Lessing selbst
in den antiquarischen Briefen seinen Irrthum erkannt und aufs Glänzendste
widerlegt hat.
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 37
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[577/0590] war, und müssen aus diesem Grunde um so aufmerksamer darauf achten, ob und wie weit sich ein Zusammenhang oder eine folgerechte Entwickelung der vorigen Periode auch in der jetzigen nachweisen lasse. Die beste Gelegenheit dazu bietet die Statue des soge- nannten borghesischen Fechters von Agasias, dem Sohne des Dositheos aus Ephesos: ein Werk, welches sich uns schon beim ersten Blicke als von nicht gewöhnlicher Art darstellt. Freilich lässt sich über die verschiedenen Beziehungen, welche den Künstler bei der Composition geleitet haben, keineswegs bestimmt urtheilen; denn offenbar ist die Statue nur der Theil eines grösseren Ganzen. Sollte sie aber selbst nur eine Art akademischer Studienfigur sein, so müsste doch auch in diesem Falle dem Künstler eine bestimmte Handlung wenigstens in der Phantasie vorgeschwebt haben. Indessen auf eine bestimmte Benennung kann es gerade bei diesen Untersuchungen weniger ankommen 1). Das Grundmotiv der ganzen Handlung spricht sich in dem Werke selbst mit hinlänglicher Klarheit aus: ein Krieger befindet sich im Kampfe mit einem Feinde, der ihm von einem höheren Standpunkte aus, wahrscheinlich zu Ross, Widerstand leistet; und durch diesen Vortheil des Gegners bietet die Deckung gegen dessen Schläge nicht geringere Schwierig- keiten, als das Erspähen der Gelegenheit eines wirksamen Angriffs. Die ganze Bildung ist nicht göttlich, aber eben so wenig Portrait, mehr ein Krieger in allgemein idealer Auf- fassung. Ein pathetisch tragisches Interesse, wie etwa beim Laokoon, wird also hier nicht in Anspruch genommen; und eben so wenig strebt der Künstler nach der erschütternden Wirkung, welche sich in dem Untergange der wildanstürmen- den Gallier offenbart. Die geistige Bedeutung geht nicht über die dargestellte Handlung hinaus, welche allerdings Umsicht im Kampfe, aber noch mehr grosse Entfaltung körperlicher Kraft und Gewandtheit erheischt. Wie aber diese Eigenschaf- ten im Leben an die Beobachtung bestimmter Regeln gebunden sind, so mussten sie auch in dem Kunstwerke sich in geregel- ter Weise äussern. Das Kunstwerk verlangt vor Allem, dass 1) Wer daran erinnert, dass Lessing im Laokoon den Namen Chabrias vorgeschlagen hat, der sollte nie vergessen anzuführen, dass Lessing selbst in den antiquarischen Briefen seinen Irrthum erkannt und aufs Glänzendste widerlegt hat. Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 37

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/590>, abgerufen am 21.05.2024.