uns diese Statuen in den verschiedensten Abstufungen, aber in einer in sich abgeschlossenen Reihe von Erscheinungen in der lebendigsten, kaum mehr rührenden, sondern niederschmettern- den Auffassung vor Augen stellen. Eine so gewaltige Hand- lung lässt allerdings den Werth der Form an sich, sowie das aus ihrer Schönheit allein entspringende Behagen untergeordnet erscheinen; und in dieser Beziehung ist die Beobachtung nicht gering anzuschlagen, welche Wagner über die Statuen der Niobe in ihrem Verhältnisse zur Kunst des Praxiteles aus- spricht: "die Formen", sagt er, "sind nicht mit derselben Zartheit angegeben, sondern weit einfacher und anspruchsloser. Ihre Stellungen erscheinen weniger zierlich, aber in gewissem Betracht naiver. Die Falten sind einfach und schlicht gewo- gen, eben so schlicht und unbefangen ausgeführt, und ohne dass das Einzelne so sehr berücksichtigt wäre, wie bei den Wiederholungen des periboetos" Wenn wir nun aber, wie Wagner, die Niobiden lieber dem Skopas, als dem Praxiteles zuzusprechen geneigt sind, so liegt für uns doch der Haupt- grund nicht in diesen Formen, sondern in der entschieden pa- thetischen Auffassung des Gegenstandes, die dem Geiste des Skopas durchaus entspricht, für welche wir dagegen, auch wenn wir die Aufforderung zu einer solchen durch die Natur des Mythus vollkommen zugeben, in allem, was wir von Pra- xiteles wissen, kaum irgendwo einen Anknüpfungspunkt finden.
Lysippos.
Lysippos war nach den übereinstimmenden Zeugnissen des Alterthums aus Sikyon gebürtig. Die Zeit seiner Thätigkeit trifft mit der Herrschaft Alexanders des Grossen zusammen, für welchen er vielfältig beschäftigt war. Anfang und Ende derselben lassen sich indessen nicht völlig sicher bestimmen. Plinius 1) giebt nur allgemein die 113te Olympiade an. Da aber Lysipp auch die Statue des Troilos gemacht hatte, wel- cher Ol. 102 zu Olympia siegte 2), so glaubte man seine Thä- tigkeit über Ol. 114 oder das Todesjahr Alexanders auf keinen Fall ausdehnen zu dürfen, indem dieselbe auch so schon den bedeutenden Zeitraum von etwa funfzig Jahren umfasste. Dabei musste freilich die Inschrift einer Statuenbasis, welche sich
1) 34, 51.
2) Paus. VI, 1, 2.
uns diese Statuen in den verschiedensten Abstufungen, aber in einer in sich abgeschlossenen Reihe von Erscheinungen in der lebendigsten, kaum mehr rührenden, sondern niederschmettern- den Auffassung vor Augen stellen. Eine so gewaltige Hand- lung lässt allerdings den Werth der Form an sich, sowie das aus ihrer Schönheit allein entspringende Behagen untergeordnet erscheinen; und in dieser Beziehung ist die Beobachtung nicht gering anzuschlagen, welche Wagner über die Statuen der Niobe in ihrem Verhältnisse zur Kunst des Praxiteles aus- spricht: „die Formen”, sagt er, „sind nicht mit derselben Zartheit angegeben, sondern weit einfacher und anspruchsloser. Ihre Stellungen erscheinen weniger zierlich, aber in gewissem Betracht naiver. Die Falten sind einfach und schlicht gewo- gen, eben so schlicht und unbefangen ausgeführt, und ohne dass das Einzelne so sehr berücksichtigt wäre, wie bei den Wiederholungen des περιβόητος” Wenn wir nun aber, wie Wagner, die Niobiden lieber dem Skopas, als dem Praxiteles zuzusprechen geneigt sind, so liegt für uns doch der Haupt- grund nicht in diesen Formen, sondern in der entschieden pa- thetischen Auffassung des Gegenstandes, die dem Geiste des Skopas durchaus entspricht, für welche wir dagegen, auch wenn wir die Aufforderung zu einer solchen durch die Natur des Mythus vollkommen zugeben, in allem, was wir von Pra- xiteles wissen, kaum irgendwo einen Anknüpfungspunkt finden.
Lysippos.
Lysippos war nach den übereinstimmenden Zeugnissen des Alterthums aus Sikyon gebürtig. Die Zeit seiner Thätigkeit trifft mit der Herrschaft Alexanders des Grossen zusammen, für welchen er vielfältig beschäftigt war. Anfang und Ende derselben lassen sich indessen nicht völlig sicher bestimmen. Plinius 1) giebt nur allgemein die 113te Olympiade an. Da aber Lysipp auch die Statue des Troïlos gemacht hatte, wel- cher Ol. 102 zu Olympia siegte 2), so glaubte man seine Thä- tigkeit über Ol. 114 oder das Todesjahr Alexanders auf keinen Fall ausdehnen zu dürfen, indem dieselbe auch so schon den bedeutenden Zeitraum von etwa funfzig Jahren umfasste. Dabei musste freilich die Inschrift einer Statuenbasis, welche sich
1) 34, 51.
2) Paus. VI, 1, 2.
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uns diese Statuen in den verschiedensten Abstufungen, aber in
einer in sich abgeschlossenen Reihe von Erscheinungen in der
lebendigsten, kaum mehr rührenden, sondern niederschmettern-
den Auffassung vor Augen stellen. Eine so gewaltige Hand-
lung lässt allerdings den Werth der Form an sich, sowie das
aus ihrer Schönheit allein entspringende Behagen untergeordnet
erscheinen; und in dieser Beziehung ist die Beobachtung nicht
gering anzuschlagen, welche Wagner über die Statuen der
Niobe in ihrem Verhältnisse zur Kunst des Praxiteles aus-
spricht: „die Formen”, sagt er, „sind nicht mit derselben
Zartheit angegeben, sondern weit einfacher und anspruchsloser.
Ihre Stellungen erscheinen weniger zierlich, aber in gewissem
Betracht naiver. Die Falten sind einfach und schlicht gewo-
gen, eben so schlicht und unbefangen ausgeführt, und ohne
dass das Einzelne so sehr berücksichtigt wäre, wie bei den
Wiederholungen des περιβόητος” Wenn wir nun aber, wie
Wagner, die Niobiden lieber dem Skopas, als dem Praxiteles
zuzusprechen geneigt sind, so liegt für uns doch der Haupt-
grund nicht in diesen Formen, sondern in der entschieden pa-
thetischen Auffassung des Gegenstandes, die dem Geiste des
Skopas durchaus entspricht, für welche wir dagegen, auch
wenn wir die Aufforderung zu einer solchen durch die Natur
des Mythus vollkommen zugeben, in allem, was wir von Pra-
xiteles wissen, kaum irgendwo einen Anknüpfungspunkt finden.
Lysippos.
Lysippos war nach den übereinstimmenden Zeugnissen des
Alterthums aus Sikyon gebürtig. Die Zeit seiner Thätigkeit
trifft mit der Herrschaft Alexanders des Grossen zusammen,
für welchen er vielfältig beschäftigt war. Anfang und Ende
derselben lassen sich indessen nicht völlig sicher bestimmen.
Plinius 1) giebt nur allgemein die 113te Olympiade an. Da
aber Lysipp auch die Statue des Troïlos gemacht hatte, wel-
cher Ol. 102 zu Olympia siegte 2), so glaubte man seine Thä-
tigkeit über Ol. 114 oder das Todesjahr Alexanders auf keinen
Fall ausdehnen zu dürfen, indem dieselbe auch so schon den
bedeutenden Zeitraum von etwa funfzig Jahren umfasste. Dabei
musste freilich die Inschrift einer Statuenbasis, welche sich
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2) Paus. VI, 1, 2.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/371>, abgerufen am 23.11.2024.
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