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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Stimmungen, als Leidenschaften, welche hier verkörpert er-
scheinen: Stimmungen, welche Gefallen erwecken (ad benevo-
lentiam praevalere), sich beim Beschauer einschmeicheln (per-
suadere) sollen, und daher vorzugsweise geeignet erscheinen,
den menschlichen Körper in der anmuthigen und reizenden
Erscheinung zu zeigen, auf welche Praxiteles mit Vorliebe die
Mittel seiner Kunst verwendete.

Hier endlich ist der Ort, der Streitfrage des Alterthums
nochmals zu gedenken, ob die Niobiden ein Werk des Skopas
oder des Praxiteles waren. Eine bestimmte Entscheidung dür-
fen wir freilich den Zweifeln des Alterthums gegenüber uns
nicht anmassen, wohl aber eine Vermuthung wagen, nachdem
wir für eine Unterscheidung des Wesens beider Künstler festere
Gesichtspunkte gewonnen haben. Was ihnen gemeinsam war,
ist bereits angedeutet worden. Sie auch sonst zusammenzu-
stellen, bot besonders auch die seit Phidias gänzlich veränderte
Auffassung des gesammten Lebens hinlängliche Veranlassung.
Sie sind ein Bild derselben, wie Phidias der seinigen; und
schaffen für Griechenland die Götter nach der Anschauungs-
weise dieser Zeit. Aber Skopas erscheint in höherem Maasse
mit einer lebhaften Phantasie begabt, von poetischer Begeiste-
rung geleitet; seine Gestalten zeigen mehr das Abbild eines
lebhaft, in seinem vollen Ganzen erfassten Gedankens, welchem
die Form willig folgen muss: daher er auch im Stande war,
den wandelbaren Moment einer auf das Höchste gesteigerten
Leidenschaft zu erfassen und festzuhalten. Praxiteles hinge-
gen richtete seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Erschei-
nungen des Körperlichen und suchte aus ihnen zu entnehmen,
was den Sinnen gefällig und angenehm, Reiz und Anmuth
hervorzubringen im Stande war. Heftige Leidenschaften, tra-
gische Geschicke bewirken aber gerade das Gegentheil hiervon.
Sie regen auf; und wie sie den Geist in hohe Spannung ver-
setzen, so müssen sie das ruhige Behagen des Körpers zerstö-
ren: der Körper muss von der Leidenschaft, dem pathos über-
wältigt werden. Das aber ist es gerade, was wir an den noch
erhaltenen Statuen der Niobiden in so hohem Grade bewundern.
Das Gefühl der Ohnmacht, gegenüber der strafenden Gewalt
der Götter, mütterliche Liebe in der höchsten Verzweiflung
um den Verlust des Theuersten, ihres grössten Stolzes; Ent-
setzen und Todesfurcht, der jähe Tod selbst, das ist es, was

Stimmungen, als Leidenschaften, welche hier verkörpert er-
scheinen: Stimmungen, welche Gefallen erwecken (ad benevo-
lentiam praevalere), sich beim Beschauer einschmeicheln (per-
suadere) sollen, und daher vorzugsweise geeignet erscheinen,
den menschlichen Körper in der anmuthigen und reizenden
Erscheinung zu zeigen, auf welche Praxiteles mit Vorliebe die
Mittel seiner Kunst verwendete.

Hier endlich ist der Ort, der Streitfrage des Alterthums
nochmals zu gedenken, ob die Niobiden ein Werk des Skopas
oder des Praxiteles waren. Eine bestimmte Entscheidung dür-
fen wir freilich den Zweifeln des Alterthums gegenüber uns
nicht anmassen, wohl aber eine Vermuthung wagen, nachdem
wir für eine Unterscheidung des Wesens beider Künstler festere
Gesichtspunkte gewonnen haben. Was ihnen gemeinsam war,
ist bereits angedeutet worden. Sie auch sonst zusammenzu-
stellen, bot besonders auch die seit Phidias gänzlich veränderte
Auffassung des gesammten Lebens hinlängliche Veranlassung.
Sie sind ein Bild derselben, wie Phidias der seinigen; und
schaffen für Griechenland die Götter nach der Anschauungs-
weise dieser Zeit. Aber Skopas erscheint in höherem Maasse
mit einer lebhaften Phantasie begabt, von poetischer Begeiste-
rung geleitet; seine Gestalten zeigen mehr das Abbild eines
lebhaft, in seinem vollen Ganzen erfassten Gedankens, welchem
die Form willig folgen muss: daher er auch im Stande war,
den wandelbaren Moment einer auf das Höchste gesteigerten
Leidenschaft zu erfassen und festzuhalten. Praxiteles hinge-
gen richtete seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Erschei-
nungen des Körperlichen und suchte aus ihnen zu entnehmen,
was den Sinnen gefällig und angenehm, Reiz und Anmuth
hervorzubringen im Stande war. Heftige Leidenschaften, tra-
gische Geschicke bewirken aber gerade das Gegentheil hiervon.
Sie regen auf; und wie sie den Geist in hohe Spannung ver-
setzen, so müssen sie das ruhige Behagen des Körpers zerstö-
ren: der Körper muss von der Leidenschaft, dem πάϑος über-
wältigt werden. Das aber ist es gerade, was wir an den noch
erhaltenen Statuen der Niobiden in so hohem Grade bewundern.
Das Gefühl der Ohnmacht, gegenüber der strafenden Gewalt
der Götter, mütterliche Liebe in der höchsten Verzweiflung
um den Verlust des Theuersten, ihres grössten Stolzes; Ent-
setzen und Todesfurcht, der jähe Tod selbst, das ist es, was

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[357/0370] Stimmungen, als Leidenschaften, welche hier verkörpert er- scheinen: Stimmungen, welche Gefallen erwecken (ad benevo- lentiam praevalere), sich beim Beschauer einschmeicheln (per- suadere) sollen, und daher vorzugsweise geeignet erscheinen, den menschlichen Körper in der anmuthigen und reizenden Erscheinung zu zeigen, auf welche Praxiteles mit Vorliebe die Mittel seiner Kunst verwendete. Hier endlich ist der Ort, der Streitfrage des Alterthums nochmals zu gedenken, ob die Niobiden ein Werk des Skopas oder des Praxiteles waren. Eine bestimmte Entscheidung dür- fen wir freilich den Zweifeln des Alterthums gegenüber uns nicht anmassen, wohl aber eine Vermuthung wagen, nachdem wir für eine Unterscheidung des Wesens beider Künstler festere Gesichtspunkte gewonnen haben. Was ihnen gemeinsam war, ist bereits angedeutet worden. Sie auch sonst zusammenzu- stellen, bot besonders auch die seit Phidias gänzlich veränderte Auffassung des gesammten Lebens hinlängliche Veranlassung. Sie sind ein Bild derselben, wie Phidias der seinigen; und schaffen für Griechenland die Götter nach der Anschauungs- weise dieser Zeit. Aber Skopas erscheint in höherem Maasse mit einer lebhaften Phantasie begabt, von poetischer Begeiste- rung geleitet; seine Gestalten zeigen mehr das Abbild eines lebhaft, in seinem vollen Ganzen erfassten Gedankens, welchem die Form willig folgen muss: daher er auch im Stande war, den wandelbaren Moment einer auf das Höchste gesteigerten Leidenschaft zu erfassen und festzuhalten. Praxiteles hinge- gen richtete seine Aufmerksamkeit zunächst auf die Erschei- nungen des Körperlichen und suchte aus ihnen zu entnehmen, was den Sinnen gefällig und angenehm, Reiz und Anmuth hervorzubringen im Stande war. Heftige Leidenschaften, tra- gische Geschicke bewirken aber gerade das Gegentheil hiervon. Sie regen auf; und wie sie den Geist in hohe Spannung ver- setzen, so müssen sie das ruhige Behagen des Körpers zerstö- ren: der Körper muss von der Leidenschaft, dem πάϑος über- wältigt werden. Das aber ist es gerade, was wir an den noch erhaltenen Statuen der Niobiden in so hohem Grade bewundern. Das Gefühl der Ohnmacht, gegenüber der strafenden Gewalt der Götter, mütterliche Liebe in der höchsten Verzweiflung um den Verlust des Theuersten, ihres grössten Stolzes; Ent- setzen und Todesfurcht, der jähe Tod selbst, das ist es, was

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 357. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/370>, abgerufen am 23.11.2024.