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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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treten kaum irgendwo sichtbar an die Oberfläche des Kör-
pers, welche darzustellen die Aufgabe des Bildners ist. Frei-
lich werden wir auch die weiteste Bedeutung ausschliessen
müssen, welche es nicht geradezu verbieten würde, selbst die
Muskeln darunter zu begreifen; dagegen spricht schon die Ver-
bindung mit den Adern, durch welche wir auf feinere, weniger
als Masse hervortretende Theile hingewiesen werden. Wir
verstehen daher das Wort von den Sehnen, oder richtiger ana-
tomisch, von den sehnigen Theilen der Muskeln, den Muskel-
ansätzen, deren Funktionen namentlich an den Gelenken in
der grössten Mannigfaltigkeit sichtbar werden. Dass einzelne
dieser Sehnen, so wie einzelne Adern schon in älteren Kunst-
werken angegeben waren, ja bis zu einem gewissen Grade an-
gegeben sein mussten, unterliegt keinem Zweifel. Aber den-
noch kann auch das primus expressit des Plinius seinen guten
Sinn haben, wenn Pythagoras es zuerst in durchgreifender
Weise that, wenn es bei ihm Regel ward, diese Theile in
einer der natürlichen Erscheinung entsprechenden Weise ins
Einzelne auszubilden. Sein Verdienst endlich um die Bildung
der Haare erklärt sich von selbst, wenn wir an die Löckchen
und Flechten älterer Werke denken, welche Haare bedeuten,
aber nicht eigentlich darstellen.

Suchen wir nun alles bisher Bemerkte zu einem Gesammt-
bilde zusammenzufassen, so lässt sich bei Pythagoras zuerst
nirgends das Bestreben verkennen, sich von der Auctorität tra-
ditioneller Kunstformen zu befreien. Da dasselbe aber bei den
meisten seiner bedeutenderen Zeitgenossen der Fall sein musste,
so fragt es sich weiter, in welcher Richtung dieses Streben
sich bei ihm äusserte, welchen Weg er dazu einschlug?
Antworten wir darauf, dass er die Natur im Ganzen, wie im
Einzelnen sich zum Vorbilde nahm und zu ergründen suchte,
so bedarf auch dieses noch der näheren Bestimmung. Eine
feine Beobachtungsgabe legten wir auch dem Kalamis bei,
allein wir fanden, dass sie sich an seinen Werken vorzugs-
weise durch einen verfeinerten Ausdruck, so weit derselbe
namentlich von Gefühl und Empfindung abhängt, bemerklich
machte. Was an Pythagoras gerühmt wird, bezieht sich da-
gegen auf grössere Vollendung der Form. Erinnerten wir da-
her bei Kalamis an Perugino und die umbrische Malerschule,
so würden wir, um diesen Vergleich weiter zu verfolgen, bei

treten kaum irgendwo sichtbar an die Oberfläche des Kör-
pers, welche darzustellen die Aufgabe des Bildners ist. Frei-
lich werden wir auch die weiteste Bedeutung ausschliessen
müssen, welche es nicht geradezu verbieten würde, selbst die
Muskeln darunter zu begreifen; dagegen spricht schon die Ver-
bindung mit den Adern, durch welche wir auf feinere, weniger
als Masse hervortretende Theile hingewiesen werden. Wir
verstehen daher das Wort von den Sehnen, oder richtiger ana-
tomisch, von den sehnigen Theilen der Muskeln, den Muskel-
ansätzen, deren Funktionen namentlich an den Gelenken in
der grössten Mannigfaltigkeit sichtbar werden. Dass einzelne
dieser Sehnen, so wie einzelne Adern schon in älteren Kunst-
werken angegeben waren, ja bis zu einem gewissen Grade an-
gegeben sein mussten, unterliegt keinem Zweifel. Aber den-
noch kann auch das primus expressit des Plinius seinen guten
Sinn haben, wenn Pythagoras es zuerst in durchgreifender
Weise that, wenn es bei ihm Regel ward, diese Theile in
einer der natürlichen Erscheinung entsprechenden Weise ins
Einzelne auszubilden. Sein Verdienst endlich um die Bildung
der Haare erklärt sich von selbst, wenn wir an die Löckchen
und Flechten älterer Werke denken, welche Haare bedeuten,
aber nicht eigentlich darstellen.

Suchen wir nun alles bisher Bemerkte zu einem Gesammt-
bilde zusammenzufassen, so lässt sich bei Pythagoras zuerst
nirgends das Bestreben verkennen, sich von der Auctorität tra-
ditioneller Kunstformen zu befreien. Da dasselbe aber bei den
meisten seiner bedeutenderen Zeitgenossen der Fall sein musste,
so fragt es sich weiter, in welcher Richtung dieses Streben
sich bei ihm äusserte, welchen Weg er dazu einschlug?
Antworten wir darauf, dass er die Natur im Ganzen, wie im
Einzelnen sich zum Vorbilde nahm und zu ergründen suchte,
so bedarf auch dieses noch der näheren Bestimmung. Eine
feine Beobachtungsgabe legten wir auch dem Kalamis bei,
allein wir fanden, dass sie sich an seinen Werken vorzugs-
weise durch einen verfeinerten Ausdruck, so weit derselbe
namentlich von Gefühl und Empfindung abhängt, bemerklich
machte. Was an Pythagoras gerühmt wird, bezieht sich da-
gegen auf grössere Vollendung der Form. Erinnerten wir da-
her bei Kalamis an Perugino und die umbrische Malerschule,
so würden wir, um diesen Vergleich weiter zu verfolgen, bei

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[140/0153] treten kaum irgendwo sichtbar an die Oberfläche des Kör- pers, welche darzustellen die Aufgabe des Bildners ist. Frei- lich werden wir auch die weiteste Bedeutung ausschliessen müssen, welche es nicht geradezu verbieten würde, selbst die Muskeln darunter zu begreifen; dagegen spricht schon die Ver- bindung mit den Adern, durch welche wir auf feinere, weniger als Masse hervortretende Theile hingewiesen werden. Wir verstehen daher das Wort von den Sehnen, oder richtiger ana- tomisch, von den sehnigen Theilen der Muskeln, den Muskel- ansätzen, deren Funktionen namentlich an den Gelenken in der grössten Mannigfaltigkeit sichtbar werden. Dass einzelne dieser Sehnen, so wie einzelne Adern schon in älteren Kunst- werken angegeben waren, ja bis zu einem gewissen Grade an- gegeben sein mussten, unterliegt keinem Zweifel. Aber den- noch kann auch das primus expressit des Plinius seinen guten Sinn haben, wenn Pythagoras es zuerst in durchgreifender Weise that, wenn es bei ihm Regel ward, diese Theile in einer der natürlichen Erscheinung entsprechenden Weise ins Einzelne auszubilden. Sein Verdienst endlich um die Bildung der Haare erklärt sich von selbst, wenn wir an die Löckchen und Flechten älterer Werke denken, welche Haare bedeuten, aber nicht eigentlich darstellen. Suchen wir nun alles bisher Bemerkte zu einem Gesammt- bilde zusammenzufassen, so lässt sich bei Pythagoras zuerst nirgends das Bestreben verkennen, sich von der Auctorität tra- ditioneller Kunstformen zu befreien. Da dasselbe aber bei den meisten seiner bedeutenderen Zeitgenossen der Fall sein musste, so fragt es sich weiter, in welcher Richtung dieses Streben sich bei ihm äusserte, welchen Weg er dazu einschlug? Antworten wir darauf, dass er die Natur im Ganzen, wie im Einzelnen sich zum Vorbilde nahm und zu ergründen suchte, so bedarf auch dieses noch der näheren Bestimmung. Eine feine Beobachtungsgabe legten wir auch dem Kalamis bei, allein wir fanden, dass sie sich an seinen Werken vorzugs- weise durch einen verfeinerten Ausdruck, so weit derselbe namentlich von Gefühl und Empfindung abhängt, bemerklich machte. Was an Pythagoras gerühmt wird, bezieht sich da- gegen auf grössere Vollendung der Form. Erinnerten wir da- her bei Kalamis an Perugino und die umbrische Malerschule, so würden wir, um diesen Vergleich weiter zu verfolgen, bei

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/153>, abgerufen am 28.04.2024.