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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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im Stande sein musste. Waren aber auch die symmetrischen
Verhältnisse strenger beobachtet, so blieb doch für die Ver-
vollkommnung der Eurythmie noch ein weiter Spielraum; wir
verweisen nur auf die aeginetischen Statuen und den Krieger
des Aristokles, deren genauere Vergleichung auch in dieser
Beziehung vielfach lehrreich sein würde. Um aber das Ver-
dienst des Pythagoras gerade in dieser Beziehung richtig zu
würdigen, ist uns jenes epigrammatische Lob von grosser
Wichtigkeit, welches seinem hinkenden Philoktet ertheilt wird:
dass der Beschauer den Schmerz der Wunde mitzufühlen glaube.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass es dabei vorzüg-
lich auf den Ausdruck des Schmerzes im Gesicht angekommen
sein müsse. Allein der Schmerz einer Fusswunde muss sich
zunächst am Körper selbst äussern. Denn wo, wie hier, ein
seiner Natur nach wesentlich zum Tragen bestimmtes Glied
gelähmt ist und der Schonung bedarf, da muss nothwendig
auch die natürliche Harmonie in der Bewegung aller andern
Glieder zerstört werden. Dafür aber bietet die Wunde wieder
ein einheitliches Motiv für eine neue bedingte Harmonie, in-
dem sie auf jede Bewegung als bestimmende Ursache wirkt.
Diese Wirkung aber ist es, welche dem Beschauer eindring-
lich vor die Augen treten muss, wenn er die Grösse des
Schmerzes wirklich ermessen und sich dadurch zum Mitleiden
angeregt fühlen soll. Hier hat also der Künstler vorzugsweise
eine Aufgabe der Rhythmik zu lösen: er muss durch rhythmi-
sches Stimmen aller Bewegungen nach dem einen gegebenen
Grundmotive, aus der Disharmonie, welche dasselbe zunächst
erzeugt, eine neue in sich einheitliche und abgeschlossene Har-
monie entwickeln. Die Voraussetzung für die Lösung dieser
Aufgabe bildet aber ein richtiges Verständniss des menschlichen
Organismus überhaupt, des Grundverhältnisses aller Theile, so
wie der Wechselwirkung, die sie unter gegebenen Verhält-
nissen auf einander ausüben; und dies ist nichts anderes, als
was Diogenes durch Symmetrie und Rhythmus bezeichnet.

Wir wenden uns jetzt zu den Lobsprüchen, welche Pli-
nius dem Pythagoras wegen verbesserter Bildung einzelner
Theile zuerkennt: dass er zuerst Nerven und Adern ausge-
drückt und das Haar sorgfältiger behandelt habe. Den Aus-
druck Nerven dürfen wir natürlich nicht in dem strengen Sinne
auffassen, welcher heute dem Worte eigen ist: denn Nerven

im Stande sein musste. Waren aber auch die symmetrischen
Verhältnisse strenger beobachtet, so blieb doch für die Ver-
vollkommnung der Eurythmie noch ein weiter Spielraum; wir
verweisen nur auf die aeginetischen Statuen und den Krieger
des Aristokles, deren genauere Vergleichung auch in dieser
Beziehung vielfach lehrreich sein würde. Um aber das Ver-
dienst des Pythagoras gerade in dieser Beziehung richtig zu
würdigen, ist uns jenes epigrammatische Lob von grosser
Wichtigkeit, welches seinem hinkenden Philoktet ertheilt wird:
dass der Beschauer den Schmerz der Wunde mitzufühlen glaube.
Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass es dabei vorzüg-
lich auf den Ausdruck des Schmerzes im Gesicht angekommen
sein müsse. Allein der Schmerz einer Fusswunde muss sich
zunächst am Körper selbst äussern. Denn wo, wie hier, ein
seiner Natur nach wesentlich zum Tragen bestimmtes Glied
gelähmt ist und der Schonung bedarf, da muss nothwendig
auch die natürliche Harmonie in der Bewegung aller andern
Glieder zerstört werden. Dafür aber bietet die Wunde wieder
ein einheitliches Motiv für eine neue bedingte Harmonie, in-
dem sie auf jede Bewegung als bestimmende Ursache wirkt.
Diese Wirkung aber ist es, welche dem Beschauer eindring-
lich vor die Augen treten muss, wenn er die Grösse des
Schmerzes wirklich ermessen und sich dadurch zum Mitleiden
angeregt fühlen soll. Hier hat also der Künstler vorzugsweise
eine Aufgabe der Rhythmik zu lösen: er muss durch rhythmi-
sches Stimmen aller Bewegungen nach dem einen gegebenen
Grundmotive, aus der Disharmonie, welche dasselbe zunächst
erzeugt, eine neue in sich einheitliche und abgeschlossene Har-
monie entwickeln. Die Voraussetzung für die Lösung dieser
Aufgabe bildet aber ein richtiges Verständniss des menschlichen
Organismus überhaupt, des Grundverhältnisses aller Theile, so
wie der Wechselwirkung, die sie unter gegebenen Verhält-
nissen auf einander ausüben; und dies ist nichts anderes, als
was Diogenes durch Symmetrie und Rhythmus bezeichnet.

Wir wenden uns jetzt zu den Lobsprüchen, welche Pli-
nius dem Pythagoras wegen verbesserter Bildung einzelner
Theile zuerkennt: dass er zuerst Nerven und Adern ausge-
drückt und das Haar sorgfältiger behandelt habe. Den Aus-
druck Nerven dürfen wir natürlich nicht in dem strengen Sinne
auffassen, welcher heute dem Worte eigen ist: denn Nerven

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[139/0152] im Stande sein musste. Waren aber auch die symmetrischen Verhältnisse strenger beobachtet, so blieb doch für die Ver- vollkommnung der Eurythmie noch ein weiter Spielraum; wir verweisen nur auf die aeginetischen Statuen und den Krieger des Aristokles, deren genauere Vergleichung auch in dieser Beziehung vielfach lehrreich sein würde. Um aber das Ver- dienst des Pythagoras gerade in dieser Beziehung richtig zu würdigen, ist uns jenes epigrammatische Lob von grosser Wichtigkeit, welches seinem hinkenden Philoktet ertheilt wird: dass der Beschauer den Schmerz der Wunde mitzufühlen glaube. Auf den ersten Blick mag es scheinen, dass es dabei vorzüg- lich auf den Ausdruck des Schmerzes im Gesicht angekommen sein müsse. Allein der Schmerz einer Fusswunde muss sich zunächst am Körper selbst äussern. Denn wo, wie hier, ein seiner Natur nach wesentlich zum Tragen bestimmtes Glied gelähmt ist und der Schonung bedarf, da muss nothwendig auch die natürliche Harmonie in der Bewegung aller andern Glieder zerstört werden. Dafür aber bietet die Wunde wieder ein einheitliches Motiv für eine neue bedingte Harmonie, in- dem sie auf jede Bewegung als bestimmende Ursache wirkt. Diese Wirkung aber ist es, welche dem Beschauer eindring- lich vor die Augen treten muss, wenn er die Grösse des Schmerzes wirklich ermessen und sich dadurch zum Mitleiden angeregt fühlen soll. Hier hat also der Künstler vorzugsweise eine Aufgabe der Rhythmik zu lösen: er muss durch rhythmi- sches Stimmen aller Bewegungen nach dem einen gegebenen Grundmotive, aus der Disharmonie, welche dasselbe zunächst erzeugt, eine neue in sich einheitliche und abgeschlossene Har- monie entwickeln. Die Voraussetzung für die Lösung dieser Aufgabe bildet aber ein richtiges Verständniss des menschlichen Organismus überhaupt, des Grundverhältnisses aller Theile, so wie der Wechselwirkung, die sie unter gegebenen Verhält- nissen auf einander ausüben; und dies ist nichts anderes, als was Diogenes durch Symmetrie und Rhythmus bezeichnet. Wir wenden uns jetzt zu den Lobsprüchen, welche Pli- nius dem Pythagoras wegen verbesserter Bildung einzelner Theile zuerkennt: dass er zuerst Nerven und Adern ausge- drückt und das Haar sorgfältiger behandelt habe. Den Aus- druck Nerven dürfen wir natürlich nicht in dem strengen Sinne auffassen, welcher heute dem Worte eigen ist: denn Nerven

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/152>, abgerufen am 27.04.2024.