nicht fern gelegene Wohnung einzutreten genöthiget, und mit auserlesenen Früchten erquicket hatten, erkun- digte Mirander sich nach ihren Umständen, und bat aufs inständigste, seine Neubegier zu vergnügen, und ihm einige Nachricht davon zu ertheilen.
Der ansehnliche Alte gab ihm, nachdem er von seiner Abkunft und ganzem Lebenslauf ihn künftig weitläuftig zu benachrichtigen versprochen, einen kurzen Begriff von ihrer nunmehr in die sechs Jahr geführten Lebensart.
Jch habe, fieng er an, nachdem ich fast die halbe Welt mit abwechselnden Glücks- und Unglücksfällen durchgewandert bin, bey den meisten Völkern eine be- daurenswürdige Abweichung von den Wegen der Na- tur, und von derjenigen Absicht, wozu die Menschen, nach ihrer allerseitigen Geständniß, hervor gebracht sind, angetroffen. Jch habe zwar, fuhr er sort, fast überall Religionen gefunden, welche zu dieser Absicht leiten sollten: wie denn auch in einigen theils mehr, theils minder darauf gezielet wird, und hin und wieder ein Strahl von dem Lichte der Wahrheit darinn zu erblicken ist. Jedoch ist es, durch unzählige Künsteleyen, auch sogar im Christenthume, wieder verdunkelt und oft unsichtbar worden. Ja ich habe gefunden, daß die Menschen, wie in den meisten Religionen, durch Betrug und Aberglauben, so in der Philosophie durch Hochmuth und Eigensinn bis auf un- sere Zeiten verführet werden, da nämlich ein jeder Philo- soph ein Welt-Systema nach einem von ihm erdachten Leisten gleichsam zugeschnitten, und sich fast unterstan- den, wenn ich so reden darf, einen Schöpfer des Schöp- fers abzugeben; wenigstens alle Jdeen des Schöpfers in seiner Jdee zu vereinen. Wodurch denn sowohl,
als
Eine Lehr-reiche Geſchichte.
nicht fern gelegene Wohnung einzutreten genoͤthiget, und mit auserleſenen Fruͤchten erquicket hatten, erkun- digte Mirander ſich nach ihren Umſtaͤnden, und bat aufs inſtaͤndigſte, ſeine Neubegier zu vergnuͤgen, und ihm einige Nachricht davon zu ertheilen.
Der anſehnliche Alte gab ihm, nachdem er von ſeiner Abkunft und ganzem Lebenslauf ihn kuͤnftig weitlaͤuftig zu benachrichtigen verſprochen, einen kurzen Begriff von ihrer nunmehr in die ſechs Jahr gefuͤhrten Lebensart.
Jch habe, fieng er an, nachdem ich faſt die halbe Welt mit abwechſelnden Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤllen durchgewandert bin, bey den meiſten Voͤlkern eine be- daurenswuͤrdige Abweichung von den Wegen der Na- tur, und von derjenigen Abſicht, wozu die Menſchen, nach ihrer allerſeitigen Geſtaͤndniß, hervor gebracht ſind, angetroffen. Jch habe zwar, fuhr er ſort, faſt uͤberall Religionen gefunden, welche zu dieſer Abſicht leiten ſollten: wie denn auch in einigen theils mehr, theils minder darauf gezielet wird, und hin und wieder ein Strahl von dem Lichte der Wahrheit darinn zu erblicken iſt. Jedoch iſt es, durch unzaͤhlige Kuͤnſteleyen, auch ſogar im Chriſtenthume, wieder verdunkelt und oft unſichtbar worden. Ja ich habe gefunden, daß die Menſchen, wie in den meiſten Religionen, durch Betrug und Aberglauben, ſo in der Philoſophie durch Hochmuth und Eigenſinn bis auf un- ſere Zeiten verfuͤhret werden, da naͤmlich ein jeder Philo- ſoph ein Welt-Syſtema nach einem von ihm erdachten Leiſten gleichſam zugeſchnitten, und ſich faſt unterſtan- den, wenn ich ſo reden darf, einen Schoͤpfer des Schoͤp- fers abzugeben; wenigſtens alle Jdeen des Schoͤpfers in ſeiner Jdee zu vereinen. Wodurch denn ſowohl,
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Eine Lehr-reiche Geſchichte.
nicht fern gelegene Wohnung einzutreten genoͤthiget,
und mit auserleſenen Fruͤchten erquicket hatten, erkun-
digte Mirander ſich nach ihren Umſtaͤnden, und bat aufs
inſtaͤndigſte, ſeine Neubegier zu vergnuͤgen, und ihm
einige Nachricht davon zu ertheilen.
Der anſehnliche Alte gab ihm, nachdem er von ſeiner
Abkunft und ganzem Lebenslauf ihn kuͤnftig weitlaͤuftig
zu benachrichtigen verſprochen, einen kurzen Begriff
von ihrer nunmehr in die ſechs Jahr gefuͤhrten Lebensart.
Jch habe, fieng er an, nachdem ich faſt die halbe
Welt mit abwechſelnden Gluͤcks- und Ungluͤcksfaͤllen
durchgewandert bin, bey den meiſten Voͤlkern eine be-
daurenswuͤrdige Abweichung von den Wegen der Na-
tur, und von derjenigen Abſicht, wozu die Menſchen,
nach ihrer allerſeitigen Geſtaͤndniß, hervor gebracht ſind,
angetroffen. Jch habe zwar, fuhr er ſort, faſt
uͤberall Religionen gefunden, welche zu dieſer Abſicht
leiten ſollten: wie denn auch in einigen theils mehr,
theils minder darauf gezielet wird, und hin und
wieder ein Strahl von dem Lichte der Wahrheit darinn
zu erblicken iſt. Jedoch iſt es, durch unzaͤhlige
Kuͤnſteleyen, auch ſogar im Chriſtenthume, wieder
verdunkelt und oft unſichtbar worden. Ja ich habe
gefunden, daß die Menſchen, wie in den meiſten
Religionen, durch Betrug und Aberglauben, ſo in der
Philoſophie durch Hochmuth und Eigenſinn bis auf un-
ſere Zeiten verfuͤhret werden, da naͤmlich ein jeder Philo-
ſoph ein Welt-Syſtema nach einem von ihm erdachten
Leiſten gleichſam zugeſchnitten, und ſich faſt unterſtan-
den, wenn ich ſo reden darf, einen Schoͤpfer des Schoͤp-
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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott, bestehend in Physicalisch- und Moralischen Gedichten. Bd. 8. Hamburg, 1746, S. 624. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen08_1746/638>, abgerufen am 24.11.2024.
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