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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

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Neu-Jahrs Gedichte.

Denn wäre dieß; käm' es ja gantz und gar
Auf GOttes Willen an, wie lang' er gönne,
Daß sie sich so bewegen könne.
Der andre Grund ist noch so kräftig nicht,
Als wie der erste war.
Ans diesem folget zwar
Daß unsrer Seel' es nicht an Kraft gebricht,
Daß sie ein herrliches, vortreflichs Wesen.
Doch daraus folget nicht, daß sie dazu erlesen,
Daß sie unsterblich sey. Weil die Erfahrung lehrt,
Daß oft das treflichste so lange, lange nicht,
Als etwas, so geringer, währt.
Der dritte wäre gut, wofern nur dieser Trieb
Jn aller Menschen Seelen brennte,
Und man denn die Versichrung haben könnte,
Daß GOtt, durch die Natur, ihn uns ins Hertze schrieb,
Nicht, aber daß vielmehr er überall
Sich ausgebreitet, durch den Fall,
Daß er vielleicht nur eine Schwärmerey
Und eine taube Frucht der eitlen Ehrsucht sey.
Auf deinen vierten ist die Antwort leicht zu finden:
Daß Seelen in der That
Oft, was zukünftig ist, im Schlaf empfinden,
Jst, was ein weiser Mann, noch nie geläugnet hat.
Ob aber das, was wir vom Künftigen erlangen,
Nicht durch Empfindungen geschieht,
Von Dingen, welche man hier gegenwärtig sieht,
Die auf das Künft'ge schon zu wircken angefangen,
Jst gantz ein' andre Frag? Und wenn es gleich geschehe,
Daß eine Seel auf andre Weise
Jm Traum zukünftge Dinge sehe;

So

Neu-Jahrs Gedichte.

Denn waͤre dieß; kaͤm’ es ja gantz und gar
Auf GOttes Willen an, wie lang’ er goͤnne,
Daß ſie ſich ſo bewegen koͤnne.
Der andre Grund iſt noch ſo kraͤftig nicht,
Als wie der erſte war.
Ans dieſem folget zwar
Daß unſrer Seel’ es nicht an Kraft gebricht,
Daß ſie ein herrliches, vortreflichs Weſen.
Doch daraus folget nicht, daß ſie dazu erleſen,
Daß ſie unſterblich ſey. Weil die Erfahrung lehrt,
Daß oft das treflichſte ſo lange, lange nicht,
Als etwas, ſo geringer, waͤhrt.
Der dritte waͤre gut, wofern nur dieſer Trieb
Jn aller Menſchen Seelen brennte,
Und man denn die Verſichrung haben koͤnnte,
Daß GOtt, durch die Natur, ihn uns ins Hertze ſchrieb,
Nicht, aber daß vielmehr er uͤberall
Sich ausgebreitet, durch den Fall,
Daß er vielleicht nur eine Schwaͤrmerey
Und eine taube Frucht der eitlen Ehrſucht ſey.
Auf deinen vierten iſt die Antwort leicht zu finden:
Daß Seelen in der That
Oft, was zukuͤnftig iſt, im Schlaf empfinden,
Jſt, was ein weiſer Mann, noch nie gelaͤugnet hat.
Ob aber das, was wir vom Kuͤnftigen erlangen,
Nicht durch Empfindungen geſchieht,
Von Dingen, welche man hier gegenwaͤrtig ſieht,
Die auf das Kuͤnft’ge ſchon zu wircken angefangen,
Jſt gantz ein’ andre Frag? Und wenn es gleich geſchehe,
Daß eine Seel auf andre Weiſe
Jm Traum zukuͤnftge Dinge ſehe;

So
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[436/0452] Neu-Jahrs Gedichte. Denn waͤre dieß; kaͤm’ es ja gantz und gar Auf GOttes Willen an, wie lang’ er goͤnne, Daß ſie ſich ſo bewegen koͤnne. Der andre Grund iſt noch ſo kraͤftig nicht, Als wie der erſte war. Ans dieſem folget zwar Daß unſrer Seel’ es nicht an Kraft gebricht, Daß ſie ein herrliches, vortreflichs Weſen. Doch daraus folget nicht, daß ſie dazu erleſen, Daß ſie unſterblich ſey. Weil die Erfahrung lehrt, Daß oft das treflichſte ſo lange, lange nicht, Als etwas, ſo geringer, waͤhrt. Der dritte waͤre gut, wofern nur dieſer Trieb Jn aller Menſchen Seelen brennte, Und man denn die Verſichrung haben koͤnnte, Daß GOtt, durch die Natur, ihn uns ins Hertze ſchrieb, Nicht, aber daß vielmehr er uͤberall Sich ausgebreitet, durch den Fall, Daß er vielleicht nur eine Schwaͤrmerey Und eine taube Frucht der eitlen Ehrſucht ſey. Auf deinen vierten iſt die Antwort leicht zu finden: Daß Seelen in der That Oft, was zukuͤnftig iſt, im Schlaf empfinden, Jſt, was ein weiſer Mann, noch nie gelaͤugnet hat. Ob aber das, was wir vom Kuͤnftigen erlangen, Nicht durch Empfindungen geſchieht, Von Dingen, welche man hier gegenwaͤrtig ſieht, Die auf das Kuͤnft’ge ſchon zu wircken angefangen, Jſt gantz ein’ andre Frag? Und wenn es gleich geſchehe, Daß eine Seel auf andre Weiſe Jm Traum zukuͤnftge Dinge ſehe; So

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Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/452>, abgerufen am 22.11.2024.