Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

sah mich und die kleine Annerl, die vor mit stand, gar
beweglich an, und dann küßte er den Meister Franz, der
Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm verbun¬
den, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den
Todesstreich. Jesus, Maria, Joseph! schrie ich aus;
denn der Kopf des Jürgen flog gegen Annerl zu und
biß mit seinen Zähnen dem Kinde in sein Röckchen, das
ganz entsetzlich schrie; ich riß meine Schürze vom Leibe
und warf sie über den scheuslichen Kopf und Meister
Franz eilte herbei, riß ihn los, und sprach: Mutter,
Mutter, was habe ich heut Morgen gesagt; ich kenne
mein Schwerdt, es ist lebendig! -- Ich war niedergesun¬
ken vor Schreck, das Annerl schrie entsetzlich. Der Bür¬
germeister war ganz bestürzt und ließ mich und das
Kind nach seinem Hause fahren; da schenkte mir seine
Frau andre Kleider für mich und das Kind, und Nach¬
mittag schenkte uns der Bürgermeister noch Geld, und
viele Leute des Städtchens auch, die Annerl sehen woll¬
ten, so daß ich an zwanzig Thaler und viele Kleider für
sie bekam. Am Abend kam der Pfarrer in's Haus und
redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in
der Gottesfurcht erziehen sollte, und auf alle die betrüb¬

4

ſah mich und die kleine Annerl, die vor mit ſtand, gar
beweglich an, und dann küßte er den Meiſter Franz, der
Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm verbun¬
den, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den
Todesſtreich. Jeſus, Maria, Joſeph! ſchrie ich aus;
denn der Kopf des Jürgen flog gegen Annerl zu und
biß mit ſeinen Zähnen dem Kinde in ſein Röckchen, das
ganz entſetzlich ſchrie; ich riß meine Schürze vom Leibe
und warf ſie über den ſcheuslichen Kopf und Meiſter
Franz eilte herbei, riß ihn los, und ſprach: Mutter,
Mutter, was habe ich heut Morgen geſagt; ich kenne
mein Schwerdt, es iſt lebendig! — Ich war niedergeſun¬
ken vor Schreck, das Annerl ſchrie entſetzlich. Der Bür¬
germeiſter war ganz beſtürzt und ließ mich und das
Kind nach ſeinem Hauſe fahren; da ſchenkte mir ſeine
Frau andre Kleider für mich und das Kind, und Nach¬
mittag ſchenkte uns der Bürgermeiſter noch Geld, und
viele Leute des Städtchens auch, die Annerl ſehen woll¬
ten, ſo daß ich an zwanzig Thaler und viele Kleider für
ſie bekam. Am Abend kam der Pfarrer in's Haus und
redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in
der Gottesfurcht erziehen ſollte, und auf alle die betrüb¬

4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0059" n="49"/>
&#x017F;ah mich und die kleine Annerl, die vor mit &#x017F;tand, gar<lb/>
beweglich an, und dann küßte er den Mei&#x017F;ter Franz, der<lb/>
Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm verbun¬<lb/>
den, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den<lb/>
Todes&#x017F;treich. Je&#x017F;us, Maria, Jo&#x017F;eph! &#x017F;chrie ich aus;<lb/>
denn der Kopf des Jürgen flog gegen Annerl zu und<lb/>
biß mit &#x017F;einen Zähnen dem Kinde in &#x017F;ein Röckchen, das<lb/>
ganz ent&#x017F;etzlich &#x017F;chrie; ich riß meine Schürze vom Leibe<lb/>
und warf &#x017F;ie über den &#x017F;cheuslichen Kopf und Mei&#x017F;ter<lb/>
Franz eilte herbei, riß ihn los, und &#x017F;prach: Mutter,<lb/>
Mutter, was habe ich heut Morgen ge&#x017F;agt; ich kenne<lb/>
mein Schwerdt, es i&#x017F;t lebendig! &#x2014; Ich war niederge&#x017F;un¬<lb/>
ken vor Schreck, das Annerl &#x017F;chrie ent&#x017F;etzlich. Der Bür¬<lb/>
germei&#x017F;ter war ganz be&#x017F;türzt und ließ mich und das<lb/>
Kind nach &#x017F;einem Hau&#x017F;e fahren; da &#x017F;chenkte mir &#x017F;eine<lb/>
Frau andre Kleider für mich und das Kind, und Nach¬<lb/>
mittag &#x017F;chenkte uns der Bürgermei&#x017F;ter noch Geld, und<lb/>
viele Leute des Städtchens auch, die Annerl &#x017F;ehen woll¬<lb/>
ten, &#x017F;o daß ich an zwanzig Thaler und viele Kleider für<lb/>
&#x017F;ie bekam. Am Abend kam der Pfarrer in's Haus und<lb/>
redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in<lb/>
der Gottesfurcht erziehen &#x017F;ollte, und auf alle die betrüb¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">4<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0059] ſah mich und die kleine Annerl, die vor mit ſtand, gar beweglich an, und dann küßte er den Meiſter Franz, der Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihm verbun¬ den, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter den Todesſtreich. Jeſus, Maria, Joſeph! ſchrie ich aus; denn der Kopf des Jürgen flog gegen Annerl zu und biß mit ſeinen Zähnen dem Kinde in ſein Röckchen, das ganz entſetzlich ſchrie; ich riß meine Schürze vom Leibe und warf ſie über den ſcheuslichen Kopf und Meiſter Franz eilte herbei, riß ihn los, und ſprach: Mutter, Mutter, was habe ich heut Morgen geſagt; ich kenne mein Schwerdt, es iſt lebendig! — Ich war niedergeſun¬ ken vor Schreck, das Annerl ſchrie entſetzlich. Der Bür¬ germeiſter war ganz beſtürzt und ließ mich und das Kind nach ſeinem Hauſe fahren; da ſchenkte mir ſeine Frau andre Kleider für mich und das Kind, und Nach¬ mittag ſchenkte uns der Bürgermeiſter noch Geld, und viele Leute des Städtchens auch, die Annerl ſehen woll¬ ten, ſo daß ich an zwanzig Thaler und viele Kleider für ſie bekam. Am Abend kam der Pfarrer in's Haus und redete mir lange zu: daß ich das Annerl nur recht in der Gottesfurcht erziehen ſollte, und auf alle die betrüb¬ 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_kasperl_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_kasperl_1838/59
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. Berlin, 1838, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_kasperl_1838/59>, abgerufen am 07.05.2024.