Die Schneehühner sind auf den Norden der alten Erde, nicht aber auf die eine Hälfte beschränkt; denn man findet sie ebensowohl in Europa und Asien wie in Amerika. Nach Süden hin bilden die Pyrenäen und Alpen, die mittelasiatischen Gebirge und bezüglich das Felsengebirge die Grenze ihres Verbreitungskreises; nach Norden hin erstreckt sich dieser, soweit der Pflanzenwuchs reicht: man hat diese wenigbegehrenden Geschöpfe noch unter dem 80. Grade nördlicher Breite gesunden. Von der allgemeinen Schilderung ihrer Lebensweise glaube ich absehen zu dürfen, da ich die beiden Arten, welche in Deutschland vorkommen, ausführlich zu schildern gedenke.
Der Abend eines der letzten Maitage war schon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger Begleiter und ich, die an der Straße von Christiania nach Drontheim gelegene Haltestelle Fogstuen auf dem Dovrefjeld erreichten; wir hatten eine lange Reife zurückgelegt und waren müde. Aber alle Beschwerden des Weges wurden vergessen, als sich uns der bereits erwähnte norwegische Jäger Erik Swenson mit der Frage vorstellte, ob wir wohl geneigt seien, auf "Ryper" zu jagen, welche gerade jetzt in vollster Balze stünden. Wir wußten, welches Wild wir unter dem norwegischen Namen zu verstehen hatten, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, dasselbe ausfindig zu machen. Das Jagdgeräth wurde rasch in Stand gebracht, ein Jmbiß genommen und das Lager aufgesucht, um für die morgende Frühjagd die nöthigen Kräfte zu gewinnen. Zu unserer nicht geringen Ueberraschung kam es aber für diesmal nicht zum Schlafen; denn unser Jäger stellte sich bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfschüttelnd gehorchten wir, und wenige Minuten später lag das einsame Gehöft bereits hinter uns.
Die Nacht war wundervoll. Es herrschte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, welches unter so hohen Breiten um diese Zeit den einen Tag von dem andern scheidet. Wir konnten alle Gegenstände auf eine gewisse Entfernung hin noch unterscheiden. Wohlbekannte Vögel, welche bei uns zu Lande um diese Zeit schon längst zur Ruhe gegangen sind, ließen sich noch vernehmen: der Kukukruf schallte aus dem nahen Birkengestrüpp zu uns her, das "Schak, schak" der Wachholderdrossel wurde laut, so oft wir eines jener Dickichte betraten, von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen der Strandläufer und die schwermüthigen Rufe der Goldregenpfeifer, der Steinschmätzer schnarrte dazu, und das Blaukehlchen gab sein köstliches Lied zum Besten.
Unser Jagdgebiet war eine breite, von sanft aufsteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie sie die meisten Gebirge Norwegens zeigen, ein Theil jener ungeheueren Mossteppe, welche sich über den ganzen Norden der Erde ausbreitet und unter dem Namen "Tundra" bekannt geworden ist. Diese Tundra ist, streng genommen, ein einziges ungeheueres Moor oder ein Morast, in welchem die Renthierflechte und die Rauschbeere das große Wort führen. Erstere überspannt in einer dünnen Schicht den Boden überall da, wo er aus Geröll besteht; letztere siedelt sich auf dem Sterbebette der Flechte an. Nur an tieferen Stellen entwickeln sich, ebenfalls auf dem Grabe der niederen, auch höhere Pflanzen; aber sie bleiben unter allen Umständen dürftig und krüppelhaft: sie scheinen gleichsam niedergebeugt zu sein von der langen Winterlast, welche selbst der kurze schöne Sommer nicht vergessen lassen kann; sie klammern sich fest an die Erde an und kriechen schlangen- gleich auf ihr weiter, als ob sie an der Mutter Brust Schutz suchen müßten gegen die Rauhheit des Landes, gegen die Wucht des sich über ihnen emporthürmenden Schnees. Doch wagen es mancherlei Alpenpflanzen, hier im milden Lichte des Sommers aufzuleben, zu gedeihen, fröhlich zu grünen und lustig zu blühen, während alle übrigen Pflanzen ein trauriges Bild von der Armuth des Landes geben. Die Fichten- und Föhrenwälder sind längst in der Tiefe zurückgeblieben, und auch die Birken, welche so freundlich die unteren Gehänge begrünen, erscheinen wie greisenhafte Zwerge, knorrig, tiefstämmig und dicht verzweigt. An ihre Stelle treten der kriechende Wachholder, welcher, viele Ellen weit auf dem Boden fortlaufend, große und dicke, aber ungemein niedere Gebüsche bildet und sich auch durch seine stumpfen Nadeln wesentlich vor dem südländischen auszeichnet, die Zwerg- birke, jenes niedere, niedliche Sträuchlein, welches sich an die Erde heftet, wie der Epheu
Schneehuhn.
Die Schneehühner ſind auf den Norden der alten Erde, nicht aber auf die eine Hälfte beſchränkt; denn man findet ſie ebenſowohl in Europa und Aſien wie in Amerika. Nach Süden hin bilden die Pyrenäen und Alpen, die mittelaſiatiſchen Gebirge und bezüglich das Felſengebirge die Grenze ihres Verbreitungskreiſes; nach Norden hin erſtreckt ſich dieſer, ſoweit der Pflanzenwuchs reicht: man hat dieſe wenigbegehrenden Geſchöpfe noch unter dem 80. Grade nördlicher Breite geſunden. Von der allgemeinen Schilderung ihrer Lebensweiſe glaube ich abſehen zu dürfen, da ich die beiden Arten, welche in Deutſchland vorkommen, ausführlich zu ſchildern gedenke.
Der Abend eines der letzten Maitage war ſchon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger Begleiter und ich, die an der Straße von Chriſtiania nach Drontheim gelegene Halteſtelle Fogstuen auf dem Dovrefjeld erreichten; wir hatten eine lange Reife zurückgelegt und waren müde. Aber alle Beſchwerden des Weges wurden vergeſſen, als ſich uns der bereits erwähnte norwegiſche Jäger Erik Swenſon mit der Frage vorſtellte, ob wir wohl geneigt ſeien, auf „Ryper“ zu jagen, welche gerade jetzt in vollſter Balze ſtünden. Wir wußten, welches Wild wir unter dem norwegiſchen Namen zu verſtehen hatten, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, daſſelbe ausfindig zu machen. Das Jagdgeräth wurde raſch in Stand gebracht, ein Jmbiß genommen und das Lager aufgeſucht, um für die morgende Frühjagd die nöthigen Kräfte zu gewinnen. Zu unſerer nicht geringen Ueberraſchung kam es aber für diesmal nicht zum Schlafen; denn unſer Jäger ſtellte ſich bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfſchüttelnd gehorchten wir, und wenige Minuten ſpäter lag das einſame Gehöft bereits hinter uns.
Die Nacht war wundervoll. Es herrſchte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, welches unter ſo hohen Breiten um dieſe Zeit den einen Tag von dem andern ſcheidet. Wir konnten alle Gegenſtände auf eine gewiſſe Entfernung hin noch unterſcheiden. Wohlbekannte Vögel, welche bei uns zu Lande um dieſe Zeit ſchon längſt zur Ruhe gegangen ſind, ließen ſich noch vernehmen: der Kukukruf ſchallte aus dem nahen Birkengeſtrüpp zu uns her, das „Schak, ſchak“ der Wachholderdroſſel wurde laut, ſo oft wir eines jener Dickichte betraten, von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen der Strandläufer und die ſchwermüthigen Rufe der Goldregenpfeifer, der Steinſchmätzer ſchnarrte dazu, und das Blaukehlchen gab ſein köſtliches Lied zum Beſten.
Unſer Jagdgebiet war eine breite, von ſanft aufſteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie ſie die meiſten Gebirge Norwegens zeigen, ein Theil jener ungeheueren Mosſteppe, welche ſich über den ganzen Norden der Erde ausbreitet und unter dem Namen „Tundra“ bekannt geworden iſt. Dieſe Tundra iſt, ſtreng genommen, ein einziges ungeheueres Moor oder ein Moraſt, in welchem die Renthierflechte und die Rauſchbeere das große Wort führen. Erſtere überſpannt in einer dünnen Schicht den Boden überall da, wo er aus Geröll beſteht; letztere ſiedelt ſich auf dem Sterbebette der Flechte an. Nur an tieferen Stellen entwickeln ſich, ebenfalls auf dem Grabe der niederen, auch höhere Pflanzen; aber ſie bleiben unter allen Umſtänden dürftig und krüppelhaft: ſie ſcheinen gleichſam niedergebeugt zu ſein von der langen Winterlaſt, welche ſelbſt der kurze ſchöne Sommer nicht vergeſſen laſſen kann; ſie klammern ſich feſt an die Erde an und kriechen ſchlangen- gleich auf ihr weiter, als ob ſie an der Mutter Bruſt Schutz ſuchen müßten gegen die Rauhheit des Landes, gegen die Wucht des ſich über ihnen emporthürmenden Schnees. Doch wagen es mancherlei Alpenpflanzen, hier im milden Lichte des Sommers aufzuleben, zu gedeihen, fröhlich zu grünen und luſtig zu blühen, während alle übrigen Pflanzen ein trauriges Bild von der Armuth des Landes geben. Die Fichten- und Föhrenwälder ſind längſt in der Tiefe zurückgeblieben, und auch die Birken, welche ſo freundlich die unteren Gehänge begrünen, erſcheinen wie greiſenhafte Zwerge, knorrig, tiefſtämmig und dicht verzweigt. An ihre Stelle treten der kriechende Wachholder, welcher, viele Ellen weit auf dem Boden fortlaufend, große und dicke, aber ungemein niedere Gebüſche bildet und ſich auch durch ſeine ſtumpfen Nadeln weſentlich vor dem ſüdländiſchen auszeichnet, die Zwerg- birke, jenes niedere, niedliche Sträuchlein, welches ſich an die Erde heftet, wie der Epheu
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0395"n="367"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Schneehuhn.</hi></fw><lb/><p>Die Schneehühner ſind auf den Norden der alten Erde, nicht aber auf die eine Hälfte<lb/>
beſchränkt; denn man findet ſie ebenſowohl in Europa und Aſien wie in Amerika. Nach Süden hin<lb/>
bilden die Pyrenäen und Alpen, die mittelaſiatiſchen Gebirge und bezüglich das Felſengebirge die<lb/>
Grenze ihres Verbreitungskreiſes; nach Norden hin erſtreckt ſich dieſer, ſoweit der Pflanzenwuchs<lb/>
reicht: man hat dieſe wenigbegehrenden Geſchöpfe noch unter dem 80. Grade nördlicher Breite<lb/>
geſunden. Von der allgemeinen Schilderung ihrer Lebensweiſe glaube ich abſehen zu dürfen, da<lb/>
ich die beiden Arten, welche in Deutſchland vorkommen, ausführlich zu ſchildern gedenke.</p><lb/><p>Der Abend eines der letzten Maitage war ſchon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger<lb/>
Begleiter und ich, die an der Straße von Chriſtiania nach Drontheim gelegene Halteſtelle Fogstuen<lb/>
auf dem Dovrefjeld erreichten; wir hatten eine lange Reife zurückgelegt und waren müde. Aber alle<lb/>
Beſchwerden des Weges wurden vergeſſen, als ſich uns der bereits erwähnte norwegiſche Jäger<lb/><hirendition="#g">Erik Swenſon</hi> mit der Frage vorſtellte, ob wir wohl geneigt ſeien, auf „<hirendition="#g">Ryper</hi>“ zu jagen,<lb/>
welche gerade jetzt in vollſter Balze ſtünden. Wir wußten, welches Wild wir unter dem norwegiſchen<lb/>
Namen zu verſtehen hatten, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, daſſelbe ausfindig zu<lb/>
machen. Das Jagdgeräth wurde raſch in Stand gebracht, ein Jmbiß genommen und das Lager<lb/>
aufgeſucht, um für die morgende Frühjagd die nöthigen Kräfte zu gewinnen. Zu unſerer nicht<lb/>
geringen Ueberraſchung kam es aber für diesmal nicht zum Schlafen; denn unſer Jäger ſtellte ſich<lb/>
bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfſchüttelnd<lb/>
gehorchten wir, und wenige Minuten ſpäter lag das einſame Gehöft bereits hinter uns.</p><lb/><p>Die Nacht war wundervoll. Es herrſchte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, welches unter ſo<lb/>
hohen Breiten um dieſe Zeit den einen Tag von dem andern ſcheidet. Wir konnten alle Gegenſtände<lb/>
auf eine gewiſſe Entfernung hin noch unterſcheiden. Wohlbekannte Vögel, welche bei uns zu Lande um<lb/>
dieſe Zeit ſchon längſt zur Ruhe gegangen ſind, ließen ſich noch vernehmen: der Kukukruf ſchallte<lb/>
aus dem nahen Birkengeſtrüpp zu uns her, das „Schak, ſchak“ der Wachholderdroſſel wurde laut,<lb/>ſo oft wir eines jener Dickichte betraten, von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen<lb/>
der Strandläufer und die ſchwermüthigen Rufe der Goldregenpfeifer, der Steinſchmätzer ſchnarrte<lb/>
dazu, und das Blaukehlchen gab ſein köſtliches Lied zum Beſten.</p><lb/><p>Unſer Jagdgebiet war eine breite, von ſanft aufſteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie<lb/>ſie die meiſten Gebirge Norwegens zeigen, ein Theil jener ungeheueren Mosſteppe, welche ſich<lb/>
über den ganzen Norden der Erde ausbreitet und unter dem Namen „Tundra“ bekannt geworden<lb/>
iſt. Dieſe Tundra iſt, ſtreng genommen, ein einziges ungeheueres Moor oder ein Moraſt, in<lb/>
welchem die Renthierflechte und die Rauſchbeere das große Wort führen. Erſtere überſpannt in<lb/>
einer dünnen Schicht den Boden überall da, wo er aus Geröll beſteht; letztere ſiedelt ſich auf dem<lb/>
Sterbebette der Flechte an. Nur an tieferen Stellen entwickeln ſich, ebenfalls auf dem Grabe der<lb/>
niederen, auch höhere Pflanzen; aber ſie bleiben unter allen Umſtänden dürftig und krüppelhaft:<lb/>ſie ſcheinen gleichſam niedergebeugt zu ſein von der langen Winterlaſt, welche ſelbſt der kurze ſchöne<lb/>
Sommer nicht vergeſſen laſſen kann; ſie klammern ſich feſt an die Erde an und kriechen ſchlangen-<lb/>
gleich auf ihr weiter, als ob ſie an der Mutter Bruſt Schutz ſuchen müßten gegen die Rauhheit des<lb/>
Landes, gegen die Wucht des ſich über ihnen emporthürmenden Schnees. Doch wagen es mancherlei<lb/>
Alpenpflanzen, hier im milden Lichte des Sommers aufzuleben, zu gedeihen, fröhlich zu grünen und<lb/>
luſtig zu blühen, während alle übrigen Pflanzen ein trauriges Bild von der Armuth des Landes<lb/>
geben. Die Fichten- und Föhrenwälder ſind längſt in der Tiefe zurückgeblieben, und auch die Birken,<lb/>
welche ſo freundlich die unteren Gehänge begrünen, erſcheinen wie greiſenhafte Zwerge, knorrig,<lb/>
tiefſtämmig und dicht verzweigt. An ihre Stelle treten der kriechende Wachholder, welcher, viele<lb/>
Ellen weit auf dem Boden fortlaufend, große und dicke, aber ungemein niedere Gebüſche bildet<lb/>
und ſich auch durch ſeine ſtumpfen Nadeln weſentlich vor dem ſüdländiſchen auszeichnet, die Zwerg-<lb/>
birke, jenes niedere, niedliche Sträuchlein, welches ſich an die Erde heftet, wie der Epheu<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[367/0395]
Schneehuhn.
Die Schneehühner ſind auf den Norden der alten Erde, nicht aber auf die eine Hälfte
beſchränkt; denn man findet ſie ebenſowohl in Europa und Aſien wie in Amerika. Nach Süden hin
bilden die Pyrenäen und Alpen, die mittelaſiatiſchen Gebirge und bezüglich das Felſengebirge die
Grenze ihres Verbreitungskreiſes; nach Norden hin erſtreckt ſich dieſer, ſoweit der Pflanzenwuchs
reicht: man hat dieſe wenigbegehrenden Geſchöpfe noch unter dem 80. Grade nördlicher Breite
geſunden. Von der allgemeinen Schilderung ihrer Lebensweiſe glaube ich abſehen zu dürfen, da
ich die beiden Arten, welche in Deutſchland vorkommen, ausführlich zu ſchildern gedenke.
Der Abend eines der letzten Maitage war ſchon ziemlich vorgerückt, als wir, mein junger
Begleiter und ich, die an der Straße von Chriſtiania nach Drontheim gelegene Halteſtelle Fogstuen
auf dem Dovrefjeld erreichten; wir hatten eine lange Reife zurückgelegt und waren müde. Aber alle
Beſchwerden des Weges wurden vergeſſen, als ſich uns der bereits erwähnte norwegiſche Jäger
Erik Swenſon mit der Frage vorſtellte, ob wir wohl geneigt ſeien, auf „Ryper“ zu jagen,
welche gerade jetzt in vollſter Balze ſtünden. Wir wußten, welches Wild wir unter dem norwegiſchen
Namen zu verſtehen hatten, weil wir uns bereits tagelang bemüht hatten, daſſelbe ausfindig zu
machen. Das Jagdgeräth wurde raſch in Stand gebracht, ein Jmbiß genommen und das Lager
aufgeſucht, um für die morgende Frühjagd die nöthigen Kräfte zu gewinnen. Zu unſerer nicht
geringen Ueberraſchung kam es aber für diesmal nicht zum Schlafen; denn unſer Jäger ſtellte ſich
bereits um die zehnte Stunde ein und forderte uns auf, ihm jetzt zu folgen. Kopfſchüttelnd
gehorchten wir, und wenige Minuten ſpäter lag das einſame Gehöft bereits hinter uns.
Die Nacht war wundervoll. Es herrſchte jenes zweifelhafte Dämmerlicht, welches unter ſo
hohen Breiten um dieſe Zeit den einen Tag von dem andern ſcheidet. Wir konnten alle Gegenſtände
auf eine gewiſſe Entfernung hin noch unterſcheiden. Wohlbekannte Vögel, welche bei uns zu Lande um
dieſe Zeit ſchon längſt zur Ruhe gegangen ſind, ließen ſich noch vernehmen: der Kukukruf ſchallte
aus dem nahen Birkengeſtrüpp zu uns her, das „Schak, ſchak“ der Wachholderdroſſel wurde laut,
ſo oft wir eines jener Dickichte betraten, von der Ebene her tönten die hellen, klangvollen Stimmen
der Strandläufer und die ſchwermüthigen Rufe der Goldregenpfeifer, der Steinſchmätzer ſchnarrte
dazu, und das Blaukehlchen gab ſein köſtliches Lied zum Beſten.
Unſer Jagdgebiet war eine breite, von ſanft aufſteigenden Bergen begrenzte Hochebene, wie
ſie die meiſten Gebirge Norwegens zeigen, ein Theil jener ungeheueren Mosſteppe, welche ſich
über den ganzen Norden der Erde ausbreitet und unter dem Namen „Tundra“ bekannt geworden
iſt. Dieſe Tundra iſt, ſtreng genommen, ein einziges ungeheueres Moor oder ein Moraſt, in
welchem die Renthierflechte und die Rauſchbeere das große Wort führen. Erſtere überſpannt in
einer dünnen Schicht den Boden überall da, wo er aus Geröll beſteht; letztere ſiedelt ſich auf dem
Sterbebette der Flechte an. Nur an tieferen Stellen entwickeln ſich, ebenfalls auf dem Grabe der
niederen, auch höhere Pflanzen; aber ſie bleiben unter allen Umſtänden dürftig und krüppelhaft:
ſie ſcheinen gleichſam niedergebeugt zu ſein von der langen Winterlaſt, welche ſelbſt der kurze ſchöne
Sommer nicht vergeſſen laſſen kann; ſie klammern ſich feſt an die Erde an und kriechen ſchlangen-
gleich auf ihr weiter, als ob ſie an der Mutter Bruſt Schutz ſuchen müßten gegen die Rauhheit des
Landes, gegen die Wucht des ſich über ihnen emporthürmenden Schnees. Doch wagen es mancherlei
Alpenpflanzen, hier im milden Lichte des Sommers aufzuleben, zu gedeihen, fröhlich zu grünen und
luſtig zu blühen, während alle übrigen Pflanzen ein trauriges Bild von der Armuth des Landes
geben. Die Fichten- und Föhrenwälder ſind längſt in der Tiefe zurückgeblieben, und auch die Birken,
welche ſo freundlich die unteren Gehänge begrünen, erſcheinen wie greiſenhafte Zwerge, knorrig,
tiefſtämmig und dicht verzweigt. An ihre Stelle treten der kriechende Wachholder, welcher, viele
Ellen weit auf dem Boden fortlaufend, große und dicke, aber ungemein niedere Gebüſche bildet
und ſich auch durch ſeine ſtumpfen Nadeln weſentlich vor dem ſüdländiſchen auszeichnet, die Zwerg-
birke, jenes niedere, niedliche Sträuchlein, welches ſich an die Erde heftet, wie der Epheu
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/395>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.