verlassen; dagegen besitzen sie eine bewunderungswürdige Geschicklichkeit im Springen und Kriechen durch Rohr- und Pflanzenstengel oder durchs Gebüsch. Sie klettern vortrefflich an senkrechten Halmen in die Höhe, huschen und laufen wie Mäuse auf dem Boden dahin und wissen sich überhaupt zu ver- bergen, durch Engen zu winden, zu verkriechen, unsichtbar zu machen, mit einer Fertigkeit, wie wenig andere Vögel. Diese Gewandtheit in der Bewegung besitzen allerdings nicht alle Arten gleichmäßig; aber sie ist doch der Gesammtheit eigen.
Kerbthiere und deren Larven, welche sie von Rohr, Schilf und Grasblättern ablesen oder auch wohl, wenn gleich selten, im Fluge fangen und vom Wasser auffischen, bilden die Nahrung der Rohrsänger. Würmer verachten sie gänzlich; dafür nehmen sie gern kleine Wasserschnecken und andere Weichthiere zu sich. Einzelne sollen auch Beeren fressen, falls Beergebüsch am Ufer steht.
Alle bei uns im Norden vorkommenden Schilfsänger sind Zugvögel. Sie erscheinen spät im Jahre, verweilen aber ziemlich lange in ihrer Heimat. Zur Fortpflanzung schreiten sie erst dann, wenn ihre Lieblingspflanzen so hoch aufgeschoffen sind, daß sie gute Deckung gewähren. Das Nest steht stets über dem Boden oder bei den meisten über dem Wasserspiegel, entweder zwischen senkrechten Rohr-, Binsen- und andern Pflanzenstengeln oder zwischen Buschgezweig. Es ist ein künst- licher Bau, der Gestalt nach einem länglichen Beutel vergleichbar, und wird immer aufgehängt. Der Nestboden ist sehr dick, die Mulde auffallend tief und der Rand nach oben eingebogen, sodaß auch bei heftiger Bewegung der schwankenden Stützen des Nestes die Brut nicht gefährdet ist. Als auffallend muß es erscheinen, daß die Rohrsänger eine gewisse Vorausahnung der Witterung bekunden, daß sie z. B. kommende Ueberschwemmungen im Voraus zu wissen scheinen und in Erwartung derselben ihre Nester höher hängen, als sonst. Die buntgefleckten Eier werden von beiden Geschlechtern ausgebrütet, die Jungen nach dem Ausfliegen noch lange Zeit geführt und geleitet.
Für das Gebauer eignen sich wenige Rohrsänger; die meisten sind so anspruchsvoll und so zart und hinfällig, daß ihre Haltung die größte Sorgfalt erfordert. Gelingt es aber, die Gefan- genen an ein passendes Ersatzfutter zu gewöhnen, so erwerben sie sich bald die Liebe der Pfleger; denn sie sind höchst unterhaltende Geschöpfe.
Die Rohrsänger (Acrocephalus) entsprechen am genauesten dem vorstehend gezeichneten Bilde der Familie. Jn ihren mittellangen Flügeln sind die dritte und vierte Schwinge die längsten, in dem mittellangen Schwanz die seitlichen Federn verkürzt; der Schnabel ist gerade, sehr wenig gebogen und kaum übergekrümmt, der Fuß besonders stark, das Gefieder glatt anliegend und unge- fleckt, auf der Oberseite öl- oder olivengrünlichgrau, auf der Unterseite rost- oder graugilblichweiß.
Unter den Mitgliedern dieser Sippe verdient vor Allem der Erwähnung unsere Rohrdrossel oder Wassernachtigall, welche wohl auch Drossel- oder großer Rohrsänger, Rohrschirf, Rohrschliefer, Rohrvogel, Rohrsperling, Bruch-, Schilf- und Weidendrossel genannt wird (Acrocephalus turdoides). Sie ist das größte Mitglied der Familie, welches in Deutschland vorkommt, einer kleinen Drossel etwa gleich, 8 Zoll lang und 11 Zoll breit, bei 31/2 Zoll Fittig- und 31/4 Zoll Schwanzlänge. Das Gefieder ist auf der Oberseite gelblichrostgrau, auf der Unterseite rostgelblichweiß, an der Gurgel aschgrau überlaufen. Das Weibchen ist etwas kleiner und blässer.
Alle wasserreichen Gegenden Deutschlands oder Mittel- und Südeuropas von Liv- und Esth- land oder Südskandinavien an bis Griechenland und Spanien beherbergen die Rohrdrossel. Jm Süden Europas, im Norden Afrikas und in Jndien wird sie durch sehr nahe verwandte Arten ver- treten. Sie ist häufig in allen Seen und Teichen oder überhaupt in wenig bewegten Gewässern, in denen das Rohr gedeiht, fehlt dagegen dem Hochgebirge fast gänzlich. Das Wasser oder richtiger das Röhricht verläßt sie nie; sie besucht nicht einmal höhere Bäume, welche dicht am Wasser stehen und noch viel weniger einen Wald. Selbst auf ihrer Reise fliegt sie stets von Gewässer zu Gewässer. Auf ihren Standplätzen erscheint sie erst zu Ende Aprils oder im Anfang des Mai und verweilt hier
55 *
Rohrdroſſel.
verlaſſen; dagegen beſitzen ſie eine bewunderungswürdige Geſchicklichkeit im Springen und Kriechen durch Rohr- und Pflanzenſtengel oder durchs Gebüſch. Sie klettern vortrefflich an ſenkrechten Halmen in die Höhe, huſchen und laufen wie Mäuſe auf dem Boden dahin und wiſſen ſich überhaupt zu ver- bergen, durch Engen zu winden, zu verkriechen, unſichtbar zu machen, mit einer Fertigkeit, wie wenig andere Vögel. Dieſe Gewandtheit in der Bewegung beſitzen allerdings nicht alle Arten gleichmäßig; aber ſie iſt doch der Geſammtheit eigen.
Kerbthiere und deren Larven, welche ſie von Rohr, Schilf und Grasblättern ableſen oder auch wohl, wenn gleich ſelten, im Fluge fangen und vom Waſſer auffiſchen, bilden die Nahrung der Rohrſänger. Würmer verachten ſie gänzlich; dafür nehmen ſie gern kleine Waſſerſchnecken und andere Weichthiere zu ſich. Einzelne ſollen auch Beeren freſſen, falls Beergebüſch am Ufer ſteht.
Alle bei uns im Norden vorkommenden Schilfſänger ſind Zugvögel. Sie erſcheinen ſpät im Jahre, verweilen aber ziemlich lange in ihrer Heimat. Zur Fortpflanzung ſchreiten ſie erſt dann, wenn ihre Lieblingspflanzen ſo hoch aufgeſchoffen ſind, daß ſie gute Deckung gewähren. Das Neſt ſteht ſtets über dem Boden oder bei den meiſten über dem Waſſerſpiegel, entweder zwiſchen ſenkrechten Rohr-, Binſen- und andern Pflanzenſtengeln oder zwiſchen Buſchgezweig. Es iſt ein künſt- licher Bau, der Geſtalt nach einem länglichen Beutel vergleichbar, und wird immer aufgehängt. Der Neſtboden iſt ſehr dick, die Mulde auffallend tief und der Rand nach oben eingebogen, ſodaß auch bei heftiger Bewegung der ſchwankenden Stützen des Neſtes die Brut nicht gefährdet iſt. Als auffallend muß es erſcheinen, daß die Rohrſänger eine gewiſſe Vorausahnung der Witterung bekunden, daß ſie z. B. kommende Ueberſchwemmungen im Voraus zu wiſſen ſcheinen und in Erwartung derſelben ihre Neſter höher hängen, als ſonſt. Die buntgefleckten Eier werden von beiden Geſchlechtern ausgebrütet, die Jungen nach dem Ausfliegen noch lange Zeit geführt und geleitet.
Für das Gebauer eignen ſich wenige Rohrſänger; die meiſten ſind ſo anſpruchsvoll und ſo zart und hinfällig, daß ihre Haltung die größte Sorgfalt erfordert. Gelingt es aber, die Gefan- genen an ein paſſendes Erſatzfutter zu gewöhnen, ſo erwerben ſie ſich bald die Liebe der Pfleger; denn ſie ſind höchſt unterhaltende Geſchöpfe.
Die Rohrſänger (Acrocephalus) entſprechen am genaueſten dem vorſtehend gezeichneten Bilde der Familie. Jn ihren mittellangen Flügeln ſind die dritte und vierte Schwinge die längſten, in dem mittellangen Schwanz die ſeitlichen Federn verkürzt; der Schnabel iſt gerade, ſehr wenig gebogen und kaum übergekrümmt, der Fuß beſonders ſtark, das Gefieder glatt anliegend und unge- fleckt, auf der Oberſeite öl- oder olivengrünlichgrau, auf der Unterſeite roſt- oder graugilblichweiß.
Unter den Mitgliedern dieſer Sippe verdient vor Allem der Erwähnung unſere Rohrdroſſel oder Waſſernachtigall, welche wohl auch Droſſel- oder großer Rohrſänger, Rohrſchirf, Rohrſchliefer, Rohrvogel, Rohrſperling, Bruch-, Schilf- und Weidendroſſel genannt wird (Acrocephalus turdoides). Sie iſt das größte Mitglied der Familie, welches in Deutſchland vorkommt, einer kleinen Droſſel etwa gleich, 8 Zoll lang und 11 Zoll breit, bei 3½ Zoll Fittig- und 3¼ Zoll Schwanzlänge. Das Gefieder iſt auf der Oberſeite gelblichroſtgrau, auf der Unterſeite roſtgelblichweiß, an der Gurgel aſchgrau überlaufen. Das Weibchen iſt etwas kleiner und bläſſer.
Alle waſſerreichen Gegenden Deutſchlands oder Mittel- und Südeuropas von Liv- und Eſth- land oder Südſkandinavien an bis Griechenland und Spanien beherbergen die Rohrdroſſel. Jm Süden Europas, im Norden Afrikas und in Jndien wird ſie durch ſehr nahe verwandte Arten ver- treten. Sie iſt häufig in allen Seen und Teichen oder überhaupt in wenig bewegten Gewäſſern, in denen das Rohr gedeiht, fehlt dagegen dem Hochgebirge faſt gänzlich. Das Waſſer oder richtiger das Röhricht verläßt ſie nie; ſie beſucht nicht einmal höhere Bäume, welche dicht am Waſſer ſtehen und noch viel weniger einen Wald. Selbſt auf ihrer Reiſe fliegt ſie ſtets von Gewäſſer zu Gewäſſer. Auf ihren Standplätzen erſcheint ſie erſt zu Ende Aprils oder im Anfang des Mai und verweilt hier
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Rohrdroſſel.
verlaſſen; dagegen beſitzen ſie eine bewunderungswürdige Geſchicklichkeit im Springen und Kriechen
durch Rohr- und Pflanzenſtengel oder durchs Gebüſch. Sie klettern vortrefflich an ſenkrechten Halmen
in die Höhe, huſchen und laufen wie Mäuſe auf dem Boden dahin und wiſſen ſich überhaupt zu ver-
bergen, durch Engen zu winden, zu verkriechen, unſichtbar zu machen, mit einer Fertigkeit, wie wenig
andere Vögel. Dieſe Gewandtheit in der Bewegung beſitzen allerdings nicht alle Arten gleichmäßig;
aber ſie iſt doch der Geſammtheit eigen.
Kerbthiere und deren Larven, welche ſie von Rohr, Schilf und Grasblättern ableſen oder auch
wohl, wenn gleich ſelten, im Fluge fangen und vom Waſſer auffiſchen, bilden die Nahrung der
Rohrſänger. Würmer verachten ſie gänzlich; dafür nehmen ſie gern kleine Waſſerſchnecken
und andere Weichthiere zu ſich. Einzelne ſollen auch Beeren freſſen, falls Beergebüſch am
Ufer ſteht.
Alle bei uns im Norden vorkommenden Schilfſänger ſind Zugvögel. Sie erſcheinen ſpät im
Jahre, verweilen aber ziemlich lange in ihrer Heimat. Zur Fortpflanzung ſchreiten ſie erſt dann,
wenn ihre Lieblingspflanzen ſo hoch aufgeſchoffen ſind, daß ſie gute Deckung gewähren. Das Neſt
ſteht ſtets über dem Boden oder bei den meiſten über dem Waſſerſpiegel, entweder zwiſchen ſenkrechten
Rohr-, Binſen- und andern Pflanzenſtengeln oder zwiſchen Buſchgezweig. Es iſt ein künſt-
licher Bau, der Geſtalt nach einem länglichen Beutel vergleichbar, und wird immer aufgehängt. Der
Neſtboden iſt ſehr dick, die Mulde auffallend tief und der Rand nach oben eingebogen, ſodaß auch bei
heftiger Bewegung der ſchwankenden Stützen des Neſtes die Brut nicht gefährdet iſt. Als auffallend
muß es erſcheinen, daß die Rohrſänger eine gewiſſe Vorausahnung der Witterung bekunden, daß ſie
z. B. kommende Ueberſchwemmungen im Voraus zu wiſſen ſcheinen und in Erwartung derſelben ihre
Neſter höher hängen, als ſonſt. Die buntgefleckten Eier werden von beiden Geſchlechtern ausgebrütet,
die Jungen nach dem Ausfliegen noch lange Zeit geführt und geleitet.
Für das Gebauer eignen ſich wenige Rohrſänger; die meiſten ſind ſo anſpruchsvoll und ſo
zart und hinfällig, daß ihre Haltung die größte Sorgfalt erfordert. Gelingt es aber, die Gefan-
genen an ein paſſendes Erſatzfutter zu gewöhnen, ſo erwerben ſie ſich bald die Liebe der Pfleger; denn
ſie ſind höchſt unterhaltende Geſchöpfe.
Die Rohrſänger (Acrocephalus) entſprechen am genaueſten dem vorſtehend gezeichneten Bilde
der Familie. Jn ihren mittellangen Flügeln ſind die dritte und vierte Schwinge die längſten, in
dem mittellangen Schwanz die ſeitlichen Federn verkürzt; der Schnabel iſt gerade, ſehr wenig
gebogen und kaum übergekrümmt, der Fuß beſonders ſtark, das Gefieder glatt anliegend und unge-
fleckt, auf der Oberſeite öl- oder olivengrünlichgrau, auf der Unterſeite roſt- oder graugilblichweiß.
Unter den Mitgliedern dieſer Sippe verdient vor Allem der Erwähnung unſere Rohrdroſſel
oder Waſſernachtigall, welche wohl auch Droſſel- oder großer Rohrſänger, Rohrſchirf,
Rohrſchliefer, Rohrvogel, Rohrſperling, Bruch-, Schilf- und Weidendroſſel genannt
wird (Acrocephalus turdoides). Sie iſt das größte Mitglied der Familie, welches in Deutſchland
vorkommt, einer kleinen Droſſel etwa gleich, 8 Zoll lang und 11 Zoll breit, bei 3½ Zoll Fittig- und
3¼ Zoll Schwanzlänge. Das Gefieder iſt auf der Oberſeite gelblichroſtgrau, auf der Unterſeite
roſtgelblichweiß, an der Gurgel aſchgrau überlaufen. Das Weibchen iſt etwas kleiner und bläſſer.
Alle waſſerreichen Gegenden Deutſchlands oder Mittel- und Südeuropas von Liv- und Eſth-
land oder Südſkandinavien an bis Griechenland und Spanien beherbergen die Rohrdroſſel. Jm
Süden Europas, im Norden Afrikas und in Jndien wird ſie durch ſehr nahe verwandte Arten ver-
treten. Sie iſt häufig in allen Seen und Teichen oder überhaupt in wenig bewegten Gewäſſern, in
denen das Rohr gedeiht, fehlt dagegen dem Hochgebirge faſt gänzlich. Das Waſſer oder richtiger das
Röhricht verläßt ſie nie; ſie beſucht nicht einmal höhere Bäume, welche dicht am Waſſer ſtehen und
noch viel weniger einen Wald. Selbſt auf ihrer Reiſe fliegt ſie ſtets von Gewäſſer zu Gewäſſer.
Auf ihren Standplätzen erſcheint ſie erſt zu Ende Aprils oder im Anfang des Mai und verweilt hier
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 867. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/915>, abgerufen am 22.11.2024.
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