haben. Die Eier sind blaß meergrün mit röthlich braunen Flecken besäet, selten beinahe oder ganz einfarbig. Sie gleichen denen des zahmen Vogels vollkommen. Ebenso hat die Brutzeit durch die Zähmung keine Veränderung erlitten; sie dauert beim wilden Kanarienvogel ebenfalls ungefähr drei- zehn Tage. Die Jungen bleiben im Nest, bis sie vollständig befiedert sind und werden noch eine Zeit lang nach dem Ausfliegen von beiden Eltern, namentlich aber vom Vater, aufs sorgsamste aus dem Kropfe gefüttert. Die Zahl der Bruten, welche in einem Sommer gemacht werden, beträgt in der Regel vier, mitunter auch nur drei. Ende Julis beginnt die Mauser, mit welcher, wie natürlich, die Fortpflanzungszeit für das Jahr schließt."
Sämmtliche Nester, welche Bolle beobachtete, waren auf gleich saubere Weise aus Pflanzen- wolle zusammengesetzt; in einzelnen fand sich kaum ein Grashalm oder Nasenstückchen zwischen der glänzenden Pflanzenwolle. "Das Männchen sitzt, während das Weibchen brütet, in dessen Nähe, am liebsten hoch auf noch unbelaubten Bäumen; im ersten Frühlinge gern auf Akazien, Platanen oder echten Kastanien, Baumarten, deren Blattknospen sich erst spät öffnen, oder auch auf dürren Zweig- spitzen, wie sie die Wipfel der in Gärten und in der Nähe der Wohnungen so allgemein verbreiteten Orangen nicht selten aufzuweisen haben. Von solchen Standpunkten aus läßt es am liebsten und längsten seinen Gesang hören. Es ist eine Freude, dann dem kleinen Künstler zu lauschen, zumal wenn es, wie uns das häufig vergönnt war, von dem Erker eines Jslenno-Hauses herab geschehen kann, wo man sich oft in der Höhe des singenden Vogels befindet, der in ganz geringer Entfernung vor uns sitzt. Wie bläht er dann seine kleine gesangreiche Kehle auf, wie wendet er die goldgrün schimmernde Brust bald rechts, bald links, sich im Strahl seiner heimatlichen Sonne badend, bis auf einmal der leise Ruf des im Neste verborgenen Weibchens sein Ohr trifft und er mit angezogenen Flügeln sich in das Blättermeer der Baumkrone stürzt, die, über ihm zusammenschlagend, die süßen Geheimnisse seines Gattenglücks dem Auge verhüllt. Jn solch einem Augenblick, umgeben von der Blüthen- pracht und den Düften seines Vaterlandes, ist das unscheinbare grüne Vögelchen schöner, als die schönsten seiner Brüder, die in Europa die Tracht der Sklaverei tragen. Es ist ja an seiner Stelle, und die Weise seines Liedes verfehlt um so weniger einen unwiderstehlichen Zauber zu üben, als durch alle Sinne zugleich weiche und wohlthuende Empfindungen auf den Zuhörer einwirken und mit dem Reize des Fremdartigen sich gerade durch diese Vogelstimme träumerische Erinne- rungen der Kindheit mischen. Unzweifelhaft ist Nichts mehr im Stande gewesen, uns anzuhei- meln und das Gefühl des Fremdseins auf den Jnseln zu verscheuchen, als gerade der überall uns freundlich grüßende Gesang des wilden Kanarienvogels, der dort etwa in derselben Häufigkeit, wie der Schlag des Finken in Deutschland ertönt."
"Es ist viel über den Werth des Gesanges geredet worden. Von Einigen überschätzt und allzusehr gepriesen, ist er von Andern einer sehr strengen Beurtheilung unterzogen worden. Man entfernt sich nicht von der Wahrheit, wenn man die Meinung ausspricht, die wilden Kanarien- vögel sängen, wie in Europa die zahmen. Der Schlag dieser letzteren ist durchaus kein Kunsterzeug- niß, sondern im großen Ganzen geblieben, was er ursprünglich war. Einzelne Theile des Gesanges hat die Erziehung umgestalten und zu glänzenderer Entwickelung bringen, andere der Naturzustand in größerer Frische und Reinheit bewahren mögen, das Gepräge beider Gesänge aber ist noch jetzt vollkommen übereinstimmend und beweist, daß, mag ein Volk auch seine Sprache verlieren können, eine Vogelart dieselbe durch alle Wandlungen äußerer Verhältnisse unversehrt hindurchträgt. So weit das unbefangene Urtheil. Das befangene wird bestochen durch die tausend Reize der Land- schaft, durch den Zauber des Ungewöhnlichen. Was wir vernehmen, ist schön; aber es wird schöner noch und klangreicher dadurch, daß es nicht im staubigen Zimmer, sondern unter Gottes freiem Himmel erschallt, da wo Rosen und Jasmin um die Cypresse ranken und die im Raum verschwim- menden Klangwellen das Harte von sich abstreifen, welches an dem meist in zu großer Nähe ver- nommenen Gesang des zahmen Vogels tadelnswerth erscheint. Und doch begnügt man sich nicht, mit dem Ohre zu hören; unvermerkt vernimmt man auch durch die Einbildungskraft, und so ent-
Die Knacker. Sperlingsvögel. Gimpel.
haben. Die Eier ſind blaß meergrün mit röthlich braunen Flecken beſäet, ſelten beinahe oder ganz einfarbig. Sie gleichen denen des zahmen Vogels vollkommen. Ebenſo hat die Brutzeit durch die Zähmung keine Veränderung erlitten; ſie dauert beim wilden Kanarienvogel ebenfalls ungefähr drei- zehn Tage. Die Jungen bleiben im Neſt, bis ſie vollſtändig befiedert ſind und werden noch eine Zeit lang nach dem Ausfliegen von beiden Eltern, namentlich aber vom Vater, aufs ſorgſamſte aus dem Kropfe gefüttert. Die Zahl der Bruten, welche in einem Sommer gemacht werden, beträgt in der Regel vier, mitunter auch nur drei. Ende Julis beginnt die Mauſer, mit welcher, wie natürlich, die Fortpflanzungszeit für das Jahr ſchließt.‟
Sämmtliche Neſter, welche Bolle beobachtete, waren auf gleich ſaubere Weiſe aus Pflanzen- wolle zuſammengeſetzt; in einzelnen fand ſich kaum ein Grashalm oder Naſenſtückchen zwiſchen der glänzenden Pflanzenwolle. „Das Männchen ſitzt, während das Weibchen brütet, in deſſen Nähe, am liebſten hoch auf noch unbelaubten Bäumen; im erſten Frühlinge gern auf Akazien, Platanen oder echten Kaſtanien, Baumarten, deren Blattknoſpen ſich erſt ſpät öffnen, oder auch auf dürren Zweig- ſpitzen, wie ſie die Wipfel der in Gärten und in der Nähe der Wohnungen ſo allgemein verbreiteten Orangen nicht ſelten aufzuweiſen haben. Von ſolchen Standpunkten aus läßt es am liebſten und längſten ſeinen Geſang hören. Es iſt eine Freude, dann dem kleinen Künſtler zu lauſchen, zumal wenn es, wie uns das häufig vergönnt war, von dem Erker eines Jsleño-Hauſes herab geſchehen kann, wo man ſich oft in der Höhe des ſingenden Vogels befindet, der in ganz geringer Entfernung vor uns ſitzt. Wie bläht er dann ſeine kleine geſangreiche Kehle auf, wie wendet er die goldgrün ſchimmernde Bruſt bald rechts, bald links, ſich im Strahl ſeiner heimatlichen Sonne badend, bis auf einmal der leiſe Ruf des im Neſte verborgenen Weibchens ſein Ohr trifft und er mit angezogenen Flügeln ſich in das Blättermeer der Baumkrone ſtürzt, die, über ihm zuſammenſchlagend, die ſüßen Geheimniſſe ſeines Gattenglücks dem Auge verhüllt. Jn ſolch einem Augenblick, umgeben von der Blüthen- pracht und den Düften ſeines Vaterlandes, iſt das unſcheinbare grüne Vögelchen ſchöner, als die ſchönſten ſeiner Brüder, die in Europa die Tracht der Sklaverei tragen. Es iſt ja an ſeiner Stelle, und die Weiſe ſeines Liedes verfehlt um ſo weniger einen unwiderſtehlichen Zauber zu üben, als durch alle Sinne zugleich weiche und wohlthuende Empfindungen auf den Zuhörer einwirken und mit dem Reize des Fremdartigen ſich gerade durch dieſe Vogelſtimme träumeriſche Erinne- rungen der Kindheit miſchen. Unzweifelhaft iſt Nichts mehr im Stande geweſen, uns anzuhei- meln und das Gefühl des Fremdſeins auf den Jnſeln zu verſcheuchen, als gerade der überall uns freundlich grüßende Geſang des wilden Kanarienvogels, der dort etwa in derſelben Häufigkeit, wie der Schlag des Finken in Deutſchland ertönt.‟
„Es iſt viel über den Werth des Geſanges geredet worden. Von Einigen überſchätzt und allzuſehr geprieſen, iſt er von Andern einer ſehr ſtrengen Beurtheilung unterzogen worden. Man entfernt ſich nicht von der Wahrheit, wenn man die Meinung ausſpricht, die wilden Kanarien- vögel ſängen, wie in Europa die zahmen. Der Schlag dieſer letzteren iſt durchaus kein Kunſterzeug- niß, ſondern im großen Ganzen geblieben, was er urſprünglich war. Einzelne Theile des Geſanges hat die Erziehung umgeſtalten und zu glänzenderer Entwickelung bringen, andere der Naturzuſtand in größerer Friſche und Reinheit bewahren mögen, das Gepräge beider Geſänge aber iſt noch jetzt vollkommen übereinſtimmend und beweiſt, daß, mag ein Volk auch ſeine Sprache verlieren können, eine Vogelart dieſelbe durch alle Wandlungen äußerer Verhältniſſe unverſehrt hindurchträgt. So weit das unbefangene Urtheil. Das befangene wird beſtochen durch die tauſend Reize der Land- ſchaft, durch den Zauber des Ungewöhnlichen. Was wir vernehmen, iſt ſchön; aber es wird ſchöner noch und klangreicher dadurch, daß es nicht im ſtaubigen Zimmer, ſondern unter Gottes freiem Himmel erſchallt, da wo Roſen und Jasmin um die Cypreſſe ranken und die im Raum verſchwim- menden Klangwellen das Harte von ſich abſtreifen, welches an dem meiſt in zu großer Nähe ver- nommenen Geſang des zahmen Vogels tadelnswerth erſcheint. Und doch begnügt man ſich nicht, mit dem Ohre zu hören; unvermerkt vernimmt man auch durch die Einbildungskraft, und ſo ent-
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[122/0140]
Die Knacker. Sperlingsvögel. Gimpel.
haben. Die Eier ſind blaß meergrün mit röthlich braunen Flecken beſäet, ſelten beinahe oder ganz
einfarbig. Sie gleichen denen des zahmen Vogels vollkommen. Ebenſo hat die Brutzeit durch die
Zähmung keine Veränderung erlitten; ſie dauert beim wilden Kanarienvogel ebenfalls ungefähr drei-
zehn Tage. Die Jungen bleiben im Neſt, bis ſie vollſtändig befiedert ſind und werden noch eine Zeit
lang nach dem Ausfliegen von beiden Eltern, namentlich aber vom Vater, aufs ſorgſamſte aus
dem Kropfe gefüttert. Die Zahl der Bruten, welche in einem Sommer gemacht werden, beträgt in
der Regel vier, mitunter auch nur drei. Ende Julis beginnt die Mauſer, mit welcher, wie natürlich,
die Fortpflanzungszeit für das Jahr ſchließt.‟
Sämmtliche Neſter, welche Bolle beobachtete, waren auf gleich ſaubere Weiſe aus Pflanzen-
wolle zuſammengeſetzt; in einzelnen fand ſich kaum ein Grashalm oder Naſenſtückchen zwiſchen der
glänzenden Pflanzenwolle. „Das Männchen ſitzt, während das Weibchen brütet, in deſſen Nähe, am
liebſten hoch auf noch unbelaubten Bäumen; im erſten Frühlinge gern auf Akazien, Platanen oder
echten Kaſtanien, Baumarten, deren Blattknoſpen ſich erſt ſpät öffnen, oder auch auf dürren Zweig-
ſpitzen, wie ſie die Wipfel der in Gärten und in der Nähe der Wohnungen ſo allgemein verbreiteten
Orangen nicht ſelten aufzuweiſen haben. Von ſolchen Standpunkten aus läßt es am liebſten und
längſten ſeinen Geſang hören. Es iſt eine Freude, dann dem kleinen Künſtler zu lauſchen, zumal
wenn es, wie uns das häufig vergönnt war, von dem Erker eines Jsleño-Hauſes herab geſchehen kann,
wo man ſich oft in der Höhe des ſingenden Vogels befindet, der in ganz geringer Entfernung vor uns
ſitzt. Wie bläht er dann ſeine kleine geſangreiche Kehle auf, wie wendet er die goldgrün ſchimmernde
Bruſt bald rechts, bald links, ſich im Strahl ſeiner heimatlichen Sonne badend, bis auf einmal der
leiſe Ruf des im Neſte verborgenen Weibchens ſein Ohr trifft und er mit angezogenen Flügeln ſich in
das Blättermeer der Baumkrone ſtürzt, die, über ihm zuſammenſchlagend, die ſüßen Geheimniſſe
ſeines Gattenglücks dem Auge verhüllt. Jn ſolch einem Augenblick, umgeben von der Blüthen-
pracht und den Düften ſeines Vaterlandes, iſt das unſcheinbare grüne Vögelchen ſchöner, als die
ſchönſten ſeiner Brüder, die in Europa die Tracht der Sklaverei tragen. Es iſt ja an ſeiner
Stelle, und die Weiſe ſeines Liedes verfehlt um ſo weniger einen unwiderſtehlichen Zauber zu üben,
als durch alle Sinne zugleich weiche und wohlthuende Empfindungen auf den Zuhörer einwirken
und mit dem Reize des Fremdartigen ſich gerade durch dieſe Vogelſtimme träumeriſche Erinne-
rungen der Kindheit miſchen. Unzweifelhaft iſt Nichts mehr im Stande geweſen, uns anzuhei-
meln und das Gefühl des Fremdſeins auf den Jnſeln zu verſcheuchen, als gerade der überall uns
freundlich grüßende Geſang des wilden Kanarienvogels, der dort etwa in derſelben Häufigkeit,
wie der Schlag des Finken in Deutſchland ertönt.‟
„Es iſt viel über den Werth des Geſanges geredet worden. Von Einigen überſchätzt und
allzuſehr geprieſen, iſt er von Andern einer ſehr ſtrengen Beurtheilung unterzogen worden. Man
entfernt ſich nicht von der Wahrheit, wenn man die Meinung ausſpricht, die wilden Kanarien-
vögel ſängen, wie in Europa die zahmen. Der Schlag dieſer letzteren iſt durchaus kein Kunſterzeug-
niß, ſondern im großen Ganzen geblieben, was er urſprünglich war. Einzelne Theile des Geſanges
hat die Erziehung umgeſtalten und zu glänzenderer Entwickelung bringen, andere der Naturzuſtand
in größerer Friſche und Reinheit bewahren mögen, das Gepräge beider Geſänge aber iſt noch jetzt
vollkommen übereinſtimmend und beweiſt, daß, mag ein Volk auch ſeine Sprache verlieren können,
eine Vogelart dieſelbe durch alle Wandlungen äußerer Verhältniſſe unverſehrt hindurchträgt. So
weit das unbefangene Urtheil. Das befangene wird beſtochen durch die tauſend Reize der Land-
ſchaft, durch den Zauber des Ungewöhnlichen. Was wir vernehmen, iſt ſchön; aber es wird ſchöner
noch und klangreicher dadurch, daß es nicht im ſtaubigen Zimmer, ſondern unter Gottes freiem
Himmel erſchallt, da wo Roſen und Jasmin um die Cypreſſe ranken und die im Raum verſchwim-
menden Klangwellen das Harte von ſich abſtreifen, welches an dem meiſt in zu großer Nähe ver-
nommenen Geſang des zahmen Vogels tadelnswerth erſcheint. Und doch begnügt man ſich nicht,
mit dem Ohre zu hören; unvermerkt vernimmt man auch durch die Einbildungskraft, und ſo ent-
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/140>, abgerufen am 28.11.2024.
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