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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Das Renthier.
erhebend, in einer Weise, welche uns vollkommen überzeugte, daß es wohl schwer halten würde, es
am Leben zu erhalten. Wir warfen ihm ein Hirschfell zu; aber dieses zerriß es in einem Augenblick
in Stücke; kurz, es geberdete sich wie rasend. Dieses Thier war ein Jährling von ungefähr sechs
Fuß Höhe."



Bei den Renthieren (Tarandus) tragen beide Geschlechter Geweihe, welche von dem kurzen
Rosenstocke an bogenförmig von rück-nach vorwärts gekrümmt, an ihren Enden schaufelförmig aus-
gebreitet, fingerförmig eingeschnitten und schwach gefurcht sind. Sehr breite Hufe und längliche, aber
stumpf zugespitzte Afterklauen zeichnen diese Hirsche aus. Jhre Gestalt ist im allgemeinen ziemlich
plump und namentlich der Kopf ist unschön; die Beine sind verhältnißmäßig niedrig; der Schwanz
ist sehr kurz; nur die alten Männchen haben im Oberkiefer kleine Eckzähne.

Einige Naturforscher nehmen an, daß die in Amerika vorkommenden Renthiere einer besonderen
Art angehören, und unterstützen ihre Meinung mit triftigen Gründen; denn auch das europäische
Ren kommt auf der Westhälfte vor und unterscheidet sich auffallend genug durch Größe, Farbe und
Lebensweise. Der Karibu (Tarandus Caribu) ist größer, als das Ren, hat ein kleineres Geweih
und dunklere Farbe, lebt einsamer, vorzugsweise in Wäldern, und wandert nicht. Dies Alles sehen
andere Forscher als zur artlichen Trennung ungenügend an, und wollen deshalb nur von einem
Renthiere etwas hören. Wir lassen die Sache auf sich beruhen und beschäftigen uns ausschließlich
mit dem eigentlichen oder europäischen Ren (Tarandus rangifer).

Man darf unter allen Hirschen das Renthier unbedingt als den wichtigsten bezeichnen. Ganze
Völker danken ihm Leben und Bestehen; ganze Völker würden ohne dieses sonderbar genug gewählte
Hausthier aufhören, zu sein. Das Renthier ist den Lappen und Finnen weit nothwendiger, als uns
das Rind oder das Pferd, als dem Araber das Kamel oder seine Ziegenherden; denn es muß die
Dienste von fast allen übrigen Hausthieren verrichten, mit Ausnahme derer, welche dem Räuber-
geschlecht zugehören. Das zahme Renthier gibt Fleisch und Fell, Knochen und Sehnen her, um
seinen Zwingherrn zu kleiden und zu ernähren; es liefert Milch, läßt sich als Lastthier benutzen und
schleppt auf dem leichten Schlitten die Familie und ihre Geräthschaften von einem Ort zum anderen;
mit einem Worte: das Renthier ermöglicht das Wanderleben der nördlichen Völkerschaften.

Jch kenne kein zweites Thier, in welchem sich die Last der Knechtschaft, der Fluch der Sklaverei
so scharf ausspricht, wie in dem Renthier. Es kann kein Zweifel obwalten, daß das heute noch
wildvorkommende "Ren" der Skandinavier der Stammvater jenes Hausthieres ist. Zahme, welche
ohne Obhut des Menschen leben können, verwildern auch in sehr kurzer Zeit und werden schon nach
ein paar Geschlechtern den wilden wieder vollständig gleich. Jn Gestalt und Wesen gibt es aber
schwerlich zwei Geschöpfe, welche, bei so inniger Verwandtschaft, sich so außerordentlich unterscheiden,
wie das zahme und das wilde Renthier. Jenes ist ein trauriger Sklave seines armen, traurigen
Herrn, dieses ein stolzer Beherrscher des Hochgebirges, ein gemsenartig lebender Hirsch, mit allem
Adel, welcher diesem schönen Wilde zukommt. Wer freilebendes Renwild in Rudeln und zahme
Renthiere gesehen hat und beide vergleichend betrachtet, kann kaum glauben, daß das eine, wie das
andere ein Kind desselben Urahnen ist.

Das wilde Ren ist ein stattliches Geschöpf von Hirschgröße, nicht aber Hirschhöhe. Seine
Länge beträgt 5 bis 6 Fuß, die Schwanzlänge gegen 5 Zoll, die Höhe am Widerrist 31/2 Fuß; das
Geweih steht zwar an Größe und noch mehr an Schönheit dem des Hirsches nach, ist aber immer-
hin ein sehr stattlicher Kopfschmuck. Der Leib des Ren unterscheidet sich von dem des Hirsches
vielleicht nur durch größere Breite des Hintertheils; Hals und Kopf sind aber viel plumper und
weniger schön und die Läufe bedeutend niederer, die Hufe viel häßlicher, als bei dem Edelwild; auch
fehlt dem Renthier unter allen Umständen die stolze Haltung des Hirsches. Es trägt sich weit weni-
ger schön, als dieses edle Geschöpf. Der Hals des Renthieres hat etwa Kopflänge, ist stark und

Die Hirſche. — Das Renthier.
erhebend, in einer Weiſe, welche uns vollkommen überzeugte, daß es wohl ſchwer halten würde, es
am Leben zu erhalten. Wir warfen ihm ein Hirſchfell zu; aber dieſes zerriß es in einem Augenblick
in Stücke; kurz, es geberdete ſich wie raſend. Dieſes Thier war ein Jährling von ungefähr ſechs
Fuß Höhe.‟



Bei den Renthieren (Tarandus) tragen beide Geſchlechter Geweihe, welche von dem kurzen
Roſenſtocke an bogenförmig von rück-nach vorwärts gekrümmt, an ihren Enden ſchaufelförmig aus-
gebreitet, fingerförmig eingeſchnitten und ſchwach gefurcht ſind. Sehr breite Hufe und längliche, aber
ſtumpf zugeſpitzte Afterklauen zeichnen dieſe Hirſche aus. Jhre Geſtalt iſt im allgemeinen ziemlich
plump und namentlich der Kopf iſt unſchön; die Beine ſind verhältnißmäßig niedrig; der Schwanz
iſt ſehr kurz; nur die alten Männchen haben im Oberkiefer kleine Eckzähne.

Einige Naturforſcher nehmen an, daß die in Amerika vorkommenden Renthiere einer beſonderen
Art angehören, und unterſtützen ihre Meinung mit triftigen Gründen; denn auch das europäiſche
Ren kommt auf der Weſthälfte vor und unterſcheidet ſich auffallend genug durch Größe, Farbe und
Lebensweiſe. Der Karibu (Tarandus Caribu) iſt größer, als das Ren, hat ein kleineres Geweih
und dunklere Farbe, lebt einſamer, vorzugsweiſe in Wäldern, und wandert nicht. Dies Alles ſehen
andere Forſcher als zur artlichen Trennung ungenügend an, und wollen deshalb nur von einem
Renthiere etwas hören. Wir laſſen die Sache auf ſich beruhen und beſchäftigen uns ausſchließlich
mit dem eigentlichen oder europäiſchen Ren (Tarandus rangifer).

Man darf unter allen Hirſchen das Renthier unbedingt als den wichtigſten bezeichnen. Ganze
Völker danken ihm Leben und Beſtehen; ganze Völker würden ohne dieſes ſonderbar genug gewählte
Hausthier aufhören, zu ſein. Das Renthier iſt den Lappen und Finnen weit nothwendiger, als uns
das Rind oder das Pferd, als dem Araber das Kamel oder ſeine Ziegenherden; denn es muß die
Dienſte von faſt allen übrigen Hausthieren verrichten, mit Ausnahme derer, welche dem Räuber-
geſchlecht zugehören. Das zahme Renthier gibt Fleiſch und Fell, Knochen und Sehnen her, um
ſeinen Zwingherrn zu kleiden und zu ernähren; es liefert Milch, läßt ſich als Laſtthier benutzen und
ſchleppt auf dem leichten Schlitten die Familie und ihre Geräthſchaften von einem Ort zum anderen;
mit einem Worte: das Renthier ermöglicht das Wanderleben der nördlichen Völkerſchaften.

Jch kenne kein zweites Thier, in welchem ſich die Laſt der Knechtſchaft, der Fluch der Sklaverei
ſo ſcharf ausſpricht, wie in dem Renthier. Es kann kein Zweifel obwalten, daß das heute noch
wildvorkommende „Ren‟ der Skandinavier der Stammvater jenes Hausthieres iſt. Zahme, welche
ohne Obhut des Menſchen leben können, verwildern auch in ſehr kurzer Zeit und werden ſchon nach
ein paar Geſchlechtern den wilden wieder vollſtändig gleich. Jn Geſtalt und Weſen gibt es aber
ſchwerlich zwei Geſchöpfe, welche, bei ſo inniger Verwandtſchaft, ſich ſo außerordentlich unterſcheiden,
wie das zahme und das wilde Renthier. Jenes iſt ein trauriger Sklave ſeines armen, traurigen
Herrn, dieſes ein ſtolzer Beherrſcher des Hochgebirges, ein gemſenartig lebender Hirſch, mit allem
Adel, welcher dieſem ſchönen Wilde zukommt. Wer freilebendes Renwild in Rudeln und zahme
Renthiere geſehen hat und beide vergleichend betrachtet, kann kaum glauben, daß das eine, wie das
andere ein Kind deſſelben Urahnen iſt.

Das wilde Ren iſt ein ſtattliches Geſchöpf von Hirſchgröße, nicht aber Hirſchhöhe. Seine
Länge beträgt 5 bis 6 Fuß, die Schwanzlänge gegen 5 Zoll, die Höhe am Widerriſt 3½ Fuß; das
Geweih ſteht zwar an Größe und noch mehr an Schönheit dem des Hirſches nach, iſt aber immer-
hin ein ſehr ſtattlicher Kopfſchmuck. Der Leib des Ren unterſcheidet ſich von dem des Hirſches
vielleicht nur durch größere Breite des Hintertheils; Hals und Kopf ſind aber viel plumper und
weniger ſchön und die Läufe bedeutend niederer, die Hufe viel häßlicher, als bei dem Edelwild; auch
fehlt dem Renthier unter allen Umſtänden die ſtolze Haltung des Hirſches. Es trägt ſich weit weni-
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[432/0458] Die Hirſche. — Das Renthier. erhebend, in einer Weiſe, welche uns vollkommen überzeugte, daß es wohl ſchwer halten würde, es am Leben zu erhalten. Wir warfen ihm ein Hirſchfell zu; aber dieſes zerriß es in einem Augenblick in Stücke; kurz, es geberdete ſich wie raſend. Dieſes Thier war ein Jährling von ungefähr ſechs Fuß Höhe.‟ Bei den Renthieren (Tarandus) tragen beide Geſchlechter Geweihe, welche von dem kurzen Roſenſtocke an bogenförmig von rück-nach vorwärts gekrümmt, an ihren Enden ſchaufelförmig aus- gebreitet, fingerförmig eingeſchnitten und ſchwach gefurcht ſind. Sehr breite Hufe und längliche, aber ſtumpf zugeſpitzte Afterklauen zeichnen dieſe Hirſche aus. Jhre Geſtalt iſt im allgemeinen ziemlich plump und namentlich der Kopf iſt unſchön; die Beine ſind verhältnißmäßig niedrig; der Schwanz iſt ſehr kurz; nur die alten Männchen haben im Oberkiefer kleine Eckzähne. Einige Naturforſcher nehmen an, daß die in Amerika vorkommenden Renthiere einer beſonderen Art angehören, und unterſtützen ihre Meinung mit triftigen Gründen; denn auch das europäiſche Ren kommt auf der Weſthälfte vor und unterſcheidet ſich auffallend genug durch Größe, Farbe und Lebensweiſe. Der Karibu (Tarandus Caribu) iſt größer, als das Ren, hat ein kleineres Geweih und dunklere Farbe, lebt einſamer, vorzugsweiſe in Wäldern, und wandert nicht. Dies Alles ſehen andere Forſcher als zur artlichen Trennung ungenügend an, und wollen deshalb nur von einem Renthiere etwas hören. Wir laſſen die Sache auf ſich beruhen und beſchäftigen uns ausſchließlich mit dem eigentlichen oder europäiſchen Ren (Tarandus rangifer). Man darf unter allen Hirſchen das Renthier unbedingt als den wichtigſten bezeichnen. Ganze Völker danken ihm Leben und Beſtehen; ganze Völker würden ohne dieſes ſonderbar genug gewählte Hausthier aufhören, zu ſein. Das Renthier iſt den Lappen und Finnen weit nothwendiger, als uns das Rind oder das Pferd, als dem Araber das Kamel oder ſeine Ziegenherden; denn es muß die Dienſte von faſt allen übrigen Hausthieren verrichten, mit Ausnahme derer, welche dem Räuber- geſchlecht zugehören. Das zahme Renthier gibt Fleiſch und Fell, Knochen und Sehnen her, um ſeinen Zwingherrn zu kleiden und zu ernähren; es liefert Milch, läßt ſich als Laſtthier benutzen und ſchleppt auf dem leichten Schlitten die Familie und ihre Geräthſchaften von einem Ort zum anderen; mit einem Worte: das Renthier ermöglicht das Wanderleben der nördlichen Völkerſchaften. Jch kenne kein zweites Thier, in welchem ſich die Laſt der Knechtſchaft, der Fluch der Sklaverei ſo ſcharf ausſpricht, wie in dem Renthier. Es kann kein Zweifel obwalten, daß das heute noch wildvorkommende „Ren‟ der Skandinavier der Stammvater jenes Hausthieres iſt. Zahme, welche ohne Obhut des Menſchen leben können, verwildern auch in ſehr kurzer Zeit und werden ſchon nach ein paar Geſchlechtern den wilden wieder vollſtändig gleich. Jn Geſtalt und Weſen gibt es aber ſchwerlich zwei Geſchöpfe, welche, bei ſo inniger Verwandtſchaft, ſich ſo außerordentlich unterſcheiden, wie das zahme und das wilde Renthier. Jenes iſt ein trauriger Sklave ſeines armen, traurigen Herrn, dieſes ein ſtolzer Beherrſcher des Hochgebirges, ein gemſenartig lebender Hirſch, mit allem Adel, welcher dieſem ſchönen Wilde zukommt. Wer freilebendes Renwild in Rudeln und zahme Renthiere geſehen hat und beide vergleichend betrachtet, kann kaum glauben, daß das eine, wie das andere ein Kind deſſelben Urahnen iſt. Das wilde Ren iſt ein ſtattliches Geſchöpf von Hirſchgröße, nicht aber Hirſchhöhe. Seine Länge beträgt 5 bis 6 Fuß, die Schwanzlänge gegen 5 Zoll, die Höhe am Widerriſt 3½ Fuß; das Geweih ſteht zwar an Größe und noch mehr an Schönheit dem des Hirſches nach, iſt aber immer- hin ein ſehr ſtattlicher Kopfſchmuck. Der Leib des Ren unterſcheidet ſich von dem des Hirſches vielleicht nur durch größere Breite des Hintertheils; Hals und Kopf ſind aber viel plumper und weniger ſchön und die Läufe bedeutend niederer, die Hufe viel häßlicher, als bei dem Edelwild; auch fehlt dem Renthier unter allen Umſtänden die ſtolze Haltung des Hirſches. Es trägt ſich weit weni- ger ſchön, als dieſes edle Geſchöpf. Der Hals des Renthieres hat etwa Kopflänge, iſt ſtark und

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/458>, abgerufen am 23.11.2024.