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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die gemeine Feldmaus.
vermuthen. Jn den zwanziger Jahren trat am Niederrhein wiederholt diese Landplage ein. Der
Boden in den Feldern war stellenweise so durchlöchert, daß man kaum einen Fuß auf die Erde stellen
konnte, ohne eine Mäuseröhre zu berühren, und zwischen diesen Oeffnungen waren zahllose Wege
tief ausgetreten. Auch am hellen Tage wimmelte es von Mäusen, die frei und ungestört umherliefen.
Näherte man sich ihnen, so kamen sie zu sechs bis zehn auf einmal vor einem und demselben Loche an,
um hineinzuschlüpfen, und verrammelten einander unfreiwillig ihre Zugänge. Es war nicht schwer,
bei diesem Zusammendrängen an den Röhren ein halbes Dutzend mit einem Stockschlage zu erlegen.
Alle schienen kräftig und gesund, doch meistens ziemlich klein, indem es großentheils Junge sein
mochten. Drei Wochen später besuchte ich dieselben Punkte. Die Zahl der Mäuse hatte noch zuge-
nommen, aber die Thiere waren offenbar in krankhaftem Zustande. Viele hatten schorfige Stellen
oder Geschwüre, oft über den ganzen Körper, und auch bei ganz unversehrten war die Haut so locker
und zerreißbar, daß man sie nicht derb anfassen durfte, ohne sie zu zerstören. Als ich vier Wochen
später zum dritten Male dieselben Gegenden besuchte, war jede Spur von Mäusen verschwunden.
Doch erregten die leeren Gänge und Wohnungen einen noch viel unheimlicheren Eindruck, als die früher
so lebendig bewegten. Man sagte, plötzlich sei die ganze Generation wie durch einen Zauber von der
Erde verschwunden gewesen. Viele mochten an einer verheerenden Seuche umgekommen sein, viele
einander gegenseitig aufgefressen haben, wie sie es auch in der Gefangenschaft thun; aber man sprach
auch von unzählbaren Scharen, die am hellen Tage an verschiedenen Punkten über den Rhein ge-
schwommen seien. Doch hatte man nirgends in der weiten Umgegend einen ungewöhnlichen Zuwachs
gesehen; sie scheinen im Gegentheil überall gleichzeitig verschwunden zu sein, ohne irgendwo wieder
aufzutauchen. Die Natur mußte in ihrer übermäßigen Entwickelung auch gleichzeitig ein Werkzeug
zu ihrer Vernichtung geschaffen haben. Die Witterung, ein schöner warmer Spätsommer, schien sie
bis zum letzten Augenblick begünstigt zu haben." Um über die Massen der Mäuse, welche manchmal
in gewissen Gegenden auftreten, Genaueres anzugeben, will ich bemerken, daß in dem einzigen Be-
zirk von Zabern im Jahre 1822 binnen 14 Tagen 1,570,000, im Landrathsamt Nidda 590,327
und im Landrathsamt Putzbach 271,941 Stück Mäuse gefangen worden sind. "Jm Herbst des
Jahres 1856," sagt Lenz, "gab es soviel Mäuse, daß in einem Umkreis von vier Stunden zwischen
Erfurt und Gotha etwa 12,000 Acker Land umgepflügt werden mußten. Die Aussicht von jedem
Acker hatte nach damaligem Preise einen Werth von 2 Thalern; das Umackern selbst war auf einen
halben Thaler anzuschlagen, und so betrug der Verlust mindestens 20 bis 30,000 Thaler, aber wahr-
scheinlich weit mehr. Auf einem großen Gute bei Breslau wurden binnen sieben Wochen 200,000
Stück gefangen und an die Breslauer Düngerfabrik abgeliefert, welche damals für's Dutzend einen
Pfennig bezahlte. Einzelne Mäusefänger konnten der Fabrik täglich 1400 bis 1500 Stück liefern."
Jm Sommer des Jahres 1861 wurden in der Gegend von Alsheim in Rheinhessen 409,523 Mäuse
und 4707 Hamster eingefangen und abgeliefert. Die Gemeindekasse hat dafür 2593 Gulden ver-
ausgabt. Manche Familien haben bei dieser Mäuseverfolgung 50, 60 und mehr Gulden durch die
Thätigkeit ihrer Kinder erworben; ja, einem besonders glücklichen Vater haben seine wackeren Buben
142 Gulden heimgebracht. Er kaufte für dieses Geld ein kleines Grundstück, welches den Namen
"Mäuseäckerchen" für alle Zeiten tragen soll. Jn den Jahren 1813 und 14 richtete die Feldmaus
in den Wäldern Englands unter der ein- bis zweijährigen Baumsaat so große Verwüstungen an, daß
ernstliche Besorgnisse dadurch rege wurden. Auf weite Strecken hin hatten die Thiere nicht allein
von allen Setzlingen die Rinde abgefressen, sondern auch die Wurzeln vieler schon großen Eichen und
Kastanien abgeschält und die Bäume dadurch zu Grunde gerichtet. Von Seiten der Regierungen
mußten die umfassendsten Vorrichtungen getroffen werden, um dem ungeheuren Schaden zu steuern;
man verfolgte die Mäuse im großartigsten Maßstabe.

Leider ist der Mensch allein diesen Mäusen gegenüber geradezu ohnmächtig. Alle Vertilgungs-
mittel, welche man bisher ersonnen hat, erscheinen ungenügend der massenhaften Vermehrung jener
gefräßigen Scharen gegenüber: nur der Himmel und die den Menschen so befreundeten und gleich-

Brehm, Thierleben. II. 11

Die gemeine Feldmaus.
vermuthen. Jn den zwanziger Jahren trat am Niederrhein wiederholt dieſe Landplage ein. Der
Boden in den Feldern war ſtellenweiſe ſo durchlöchert, daß man kaum einen Fuß auf die Erde ſtellen
konnte, ohne eine Mäuſeröhre zu berühren, und zwiſchen dieſen Oeffnungen waren zahlloſe Wege
tief ausgetreten. Auch am hellen Tage wimmelte es von Mäuſen, die frei und ungeſtört umherliefen.
Näherte man ſich ihnen, ſo kamen ſie zu ſechs bis zehn auf einmal vor einem und demſelben Loche an,
um hineinzuſchlüpfen, und verrammelten einander unfreiwillig ihre Zugänge. Es war nicht ſchwer,
bei dieſem Zuſammendrängen an den Röhren ein halbes Dutzend mit einem Stockſchlage zu erlegen.
Alle ſchienen kräftig und geſund, doch meiſtens ziemlich klein, indem es großentheils Junge ſein
mochten. Drei Wochen ſpäter beſuchte ich dieſelben Punkte. Die Zahl der Mäuſe hatte noch zuge-
nommen, aber die Thiere waren offenbar in krankhaftem Zuſtande. Viele hatten ſchorfige Stellen
oder Geſchwüre, oft über den ganzen Körper, und auch bei ganz unverſehrten war die Haut ſo locker
und zerreißbar, daß man ſie nicht derb anfaſſen durfte, ohne ſie zu zerſtören. Als ich vier Wochen
ſpäter zum dritten Male dieſelben Gegenden beſuchte, war jede Spur von Mäuſen verſchwunden.
Doch erregten die leeren Gänge und Wohnungen einen noch viel unheimlicheren Eindruck, als die früher
ſo lebendig bewegten. Man ſagte, plötzlich ſei die ganze Generation wie durch einen Zauber von der
Erde verſchwunden geweſen. Viele mochten an einer verheerenden Seuche umgekommen ſein, viele
einander gegenſeitig aufgefreſſen haben, wie ſie es auch in der Gefangenſchaft thun; aber man ſprach
auch von unzählbaren Scharen, die am hellen Tage an verſchiedenen Punkten über den Rhein ge-
ſchwommen ſeien. Doch hatte man nirgends in der weiten Umgegend einen ungewöhnlichen Zuwachs
geſehen; ſie ſcheinen im Gegentheil überall gleichzeitig verſchwunden zu ſein, ohne irgendwo wieder
aufzutauchen. Die Natur mußte in ihrer übermäßigen Entwickelung auch gleichzeitig ein Werkzeug
zu ihrer Vernichtung geſchaffen haben. Die Witterung, ein ſchöner warmer Spätſommer, ſchien ſie
bis zum letzten Augenblick begünſtigt zu haben.‟ Um über die Maſſen der Mäuſe, welche manchmal
in gewiſſen Gegenden auftreten, Genaueres anzugeben, will ich bemerken, daß in dem einzigen Be-
zirk von Zabern im Jahre 1822 binnen 14 Tagen 1,570,000, im Landrathsamt Nidda 590,327
und im Landrathsamt Putzbach 271,941 Stück Mäuſe gefangen worden ſind. „Jm Herbſt des
Jahres 1856,‟ ſagt Lenz, „gab es ſoviel Mäuſe, daß in einem Umkreis von vier Stunden zwiſchen
Erfurt und Gotha etwa 12,000 Acker Land umgepflügt werden mußten. Die Ausſicht von jedem
Acker hatte nach damaligem Preiſe einen Werth von 2 Thalern; das Umackern ſelbſt war auf einen
halben Thaler anzuſchlagen, und ſo betrug der Verluſt mindeſtens 20 bis 30,000 Thaler, aber wahr-
ſcheinlich weit mehr. Auf einem großen Gute bei Breslau wurden binnen ſieben Wochen 200,000
Stück gefangen und an die Breslauer Düngerfabrik abgeliefert, welche damals für’s Dutzend einen
Pfennig bezahlte. Einzelne Mäuſefänger konnten der Fabrik täglich 1400 bis 1500 Stück liefern.‟
Jm Sommer des Jahres 1861 wurden in der Gegend von Alsheim in Rheinheſſen 409,523 Mäuſe
und 4707 Hamſter eingefangen und abgeliefert. Die Gemeindekaſſe hat dafür 2593 Gulden ver-
ausgabt. Manche Familien haben bei dieſer Mäuſeverfolgung 50, 60 und mehr Gulden durch die
Thätigkeit ihrer Kinder erworben; ja, einem beſonders glücklichen Vater haben ſeine wackeren Buben
142 Gulden heimgebracht. Er kaufte für dieſes Geld ein kleines Grundſtück, welches den Namen
„Mäuſeäckerchen‟ für alle Zeiten tragen ſoll. Jn den Jahren 1813 und 14 richtete die Feldmaus
in den Wäldern Englands unter der ein- bis zweijährigen Baumſaat ſo große Verwüſtungen an, daß
ernſtliche Beſorgniſſe dadurch rege wurden. Auf weite Strecken hin hatten die Thiere nicht allein
von allen Setzlingen die Rinde abgefreſſen, ſondern auch die Wurzeln vieler ſchon großen Eichen und
Kaſtanien abgeſchält und die Bäume dadurch zu Grunde gerichtet. Von Seiten der Regierungen
mußten die umfaſſendſten Vorrichtungen getroffen werden, um dem ungeheuren Schaden zu ſteuern;
man verfolgte die Mäuſe im großartigſten Maßſtabe.

Leider iſt der Menſch allein dieſen Mäuſen gegenüber geradezu ohnmächtig. Alle Vertilgungs-
mittel, welche man bisher erſonnen hat, erſcheinen ungenügend der maſſenhaften Vermehrung jener
gefräßigen Scharen gegenüber: nur der Himmel und die den Menſchen ſo befreundeten und gleich-

Brehm, Thierleben. II. 11
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[161/0177] Die gemeine Feldmaus. vermuthen. Jn den zwanziger Jahren trat am Niederrhein wiederholt dieſe Landplage ein. Der Boden in den Feldern war ſtellenweiſe ſo durchlöchert, daß man kaum einen Fuß auf die Erde ſtellen konnte, ohne eine Mäuſeröhre zu berühren, und zwiſchen dieſen Oeffnungen waren zahlloſe Wege tief ausgetreten. Auch am hellen Tage wimmelte es von Mäuſen, die frei und ungeſtört umherliefen. Näherte man ſich ihnen, ſo kamen ſie zu ſechs bis zehn auf einmal vor einem und demſelben Loche an, um hineinzuſchlüpfen, und verrammelten einander unfreiwillig ihre Zugänge. Es war nicht ſchwer, bei dieſem Zuſammendrängen an den Röhren ein halbes Dutzend mit einem Stockſchlage zu erlegen. Alle ſchienen kräftig und geſund, doch meiſtens ziemlich klein, indem es großentheils Junge ſein mochten. Drei Wochen ſpäter beſuchte ich dieſelben Punkte. Die Zahl der Mäuſe hatte noch zuge- nommen, aber die Thiere waren offenbar in krankhaftem Zuſtande. Viele hatten ſchorfige Stellen oder Geſchwüre, oft über den ganzen Körper, und auch bei ganz unverſehrten war die Haut ſo locker und zerreißbar, daß man ſie nicht derb anfaſſen durfte, ohne ſie zu zerſtören. Als ich vier Wochen ſpäter zum dritten Male dieſelben Gegenden beſuchte, war jede Spur von Mäuſen verſchwunden. Doch erregten die leeren Gänge und Wohnungen einen noch viel unheimlicheren Eindruck, als die früher ſo lebendig bewegten. Man ſagte, plötzlich ſei die ganze Generation wie durch einen Zauber von der Erde verſchwunden geweſen. Viele mochten an einer verheerenden Seuche umgekommen ſein, viele einander gegenſeitig aufgefreſſen haben, wie ſie es auch in der Gefangenſchaft thun; aber man ſprach auch von unzählbaren Scharen, die am hellen Tage an verſchiedenen Punkten über den Rhein ge- ſchwommen ſeien. Doch hatte man nirgends in der weiten Umgegend einen ungewöhnlichen Zuwachs geſehen; ſie ſcheinen im Gegentheil überall gleichzeitig verſchwunden zu ſein, ohne irgendwo wieder aufzutauchen. Die Natur mußte in ihrer übermäßigen Entwickelung auch gleichzeitig ein Werkzeug zu ihrer Vernichtung geſchaffen haben. Die Witterung, ein ſchöner warmer Spätſommer, ſchien ſie bis zum letzten Augenblick begünſtigt zu haben.‟ Um über die Maſſen der Mäuſe, welche manchmal in gewiſſen Gegenden auftreten, Genaueres anzugeben, will ich bemerken, daß in dem einzigen Be- zirk von Zabern im Jahre 1822 binnen 14 Tagen 1,570,000, im Landrathsamt Nidda 590,327 und im Landrathsamt Putzbach 271,941 Stück Mäuſe gefangen worden ſind. „Jm Herbſt des Jahres 1856,‟ ſagt Lenz, „gab es ſoviel Mäuſe, daß in einem Umkreis von vier Stunden zwiſchen Erfurt und Gotha etwa 12,000 Acker Land umgepflügt werden mußten. Die Ausſicht von jedem Acker hatte nach damaligem Preiſe einen Werth von 2 Thalern; das Umackern ſelbſt war auf einen halben Thaler anzuſchlagen, und ſo betrug der Verluſt mindeſtens 20 bis 30,000 Thaler, aber wahr- ſcheinlich weit mehr. Auf einem großen Gute bei Breslau wurden binnen ſieben Wochen 200,000 Stück gefangen und an die Breslauer Düngerfabrik abgeliefert, welche damals für’s Dutzend einen Pfennig bezahlte. Einzelne Mäuſefänger konnten der Fabrik täglich 1400 bis 1500 Stück liefern.‟ Jm Sommer des Jahres 1861 wurden in der Gegend von Alsheim in Rheinheſſen 409,523 Mäuſe und 4707 Hamſter eingefangen und abgeliefert. Die Gemeindekaſſe hat dafür 2593 Gulden ver- ausgabt. Manche Familien haben bei dieſer Mäuſeverfolgung 50, 60 und mehr Gulden durch die Thätigkeit ihrer Kinder erworben; ja, einem beſonders glücklichen Vater haben ſeine wackeren Buben 142 Gulden heimgebracht. Er kaufte für dieſes Geld ein kleines Grundſtück, welches den Namen „Mäuſeäckerchen‟ für alle Zeiten tragen ſoll. Jn den Jahren 1813 und 14 richtete die Feldmaus in den Wäldern Englands unter der ein- bis zweijährigen Baumſaat ſo große Verwüſtungen an, daß ernſtliche Beſorgniſſe dadurch rege wurden. Auf weite Strecken hin hatten die Thiere nicht allein von allen Setzlingen die Rinde abgefreſſen, ſondern auch die Wurzeln vieler ſchon großen Eichen und Kaſtanien abgeſchält und die Bäume dadurch zu Grunde gerichtet. Von Seiten der Regierungen mußten die umfaſſendſten Vorrichtungen getroffen werden, um dem ungeheuren Schaden zu ſteuern; man verfolgte die Mäuſe im großartigſten Maßſtabe. Leider iſt der Menſch allein dieſen Mäuſen gegenüber geradezu ohnmächtig. Alle Vertilgungs- mittel, welche man bisher erſonnen hat, erſcheinen ungenügend der maſſenhaften Vermehrung jener gefräßigen Scharen gegenüber: nur der Himmel und die den Menſchen ſo befreundeten und gleich- Brehm, Thierleben. II. 11

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/177>, abgerufen am 29.11.2024.