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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864.

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Die Raubthiere. Katzen. -- Tiger.
entgegen und stellt sich muthig dem Menschen als Feind gegenüber: aber als heimlicher, unvermuthet
herbeischleichender und deshalb um so gefährlicherer Feind. Man hat seine Grausamkeit und seinen
Blutdurst vielfach übertrieben oder wenigstens mit sehr grellen Farben geschildert; allein wir dürfen
uns darüber nicht wundern; denn für Diejenigen, welche ihn schildern konnten, ist er allerdings der
Jnbegriff aller Grausamkeit. Noch heutigen Tages ist die Zahl der Tiger, welche Jndien bewohnen,
ganz ungeheuer, und noch heutigen Tages müssen dort Tausende von Menschen aufgeboten werden,
um eine Gegend, welche sonst der Verödung anheimfallen würde, zeitweilig von dieser schlimmsten
aller Landplagen zu befreien.

Der Königstiger (Tigris regalis) ist eine herrliche, wunderschön gezeichnete und gefärbte Katze.
Seine Gestalt ist höher, schlanker und leichter, als die des Löwen; in der Größe aber steht der Tiger
keineswegs hinter jenem zurück. Ein erwachsener männlicher Tiger erreicht regelmäßig sieben bis acht
Fuß Gesammtlänge von der Schnauze bis zur Schwanzspitze; es sind aber nicht selten einzelne sehr
alte erlegt worden, bei welchen die in derselben Weise gemessene Länge neun Fuß ergiebt. Die ge-
wöhnliche Körperlänge beträgt etwas über fünf Fuß, die Länge des Schwanzes 21/4 Fuß, die Höhe
am Widerrist 21/2 Fuß. Der Leib ist etwas mehr verlängert und gestreckter, der Kopf runder, als
der des Löwen, der Schwanz ist lang und quastenlos, die Behaarung kurz und glatt und nur an den
Wangen bartmäßig verlängert. Das Weibchen ist kleiner und hat auch einen kürzern Backenbart.
Alle Tiger aber, welche in nördlicher gelegenen Ländern wohnen, tragen ein viel dichteres und
längeres Haarkleid, als diejenigen, deren Heimat die heißen Tiefländer Jndiens sind. Die Zeich-
nung des Thieres zeigt die schönste Anordnung von Farben und einen lebhaften Gegensatz zwischen
der hellen, rostgelben Grundfarbe und den dunklen Streifen, welche über sie hinweglaufen. Wie bei
allen Katzen ist die Grundfärbung auf dem Rücken dunkler, an den Seiten lichter und auf der Unter-
seite, der Jnnenseiten der Gliedmaßen, dem Hinterkörper, den Lippen und dem Untertheile der
Wangen weiß. Vom Rücken aus ziehen sich nun weit auseinanderstehende, unregelmäßige, schwarze
Querstreifen in schiefer Richtung theils nach der Brust, theils nach dem Bauche herab, etwas von
vorn nach hinten. Einige dieser Streifen sind doppelt, der größere Theil aber einfach und dann
dunkler. Der Schwanz ist lichter, als die Oberkörpertheile, aber auch er ist durch dunkle Ringel aus-
gezeichnet. Die Schnurren sind weiß, die Nase ist ungefleckt und die Jris gelblichbraun. Die Jungen
sind genau so gezeichnet, wie die Alten, nur hat ihre Grundfärbung einen etwas hellern Ton. Auch
bei dem Tiger kommen verschiedene Abänderungen in der Färbung vor; die Grundfarbe ist dunkler
oder lichter und in feltenen Fällen sogar weiß mit nebligen Seitenstreifen.

Man sollte meinen, daß ein so prachtvoll gezeichnetes Thier schon von weitem allen Geschöpfen
auffallen müßte, denen es nachstrebt. Allein dem ist nicht so. Jch habe schon oben darauf hinge-
wiesen, wie die Gesammtfärbung aller Thiere und die der Katzen insbesondere auf das innigste mit
ihrem Aufenthaltsort übereinstimmt, und brauche blos deshalb hier nochmals an die Dschungeln
oder Rohrwälder, an die Grasdickichte und die farbenreichen Gebüsche zu erinnern, in welchen der
Tiger hauptsächlich seine Wohnung aufschlägt, -- um eine solche Meinung zu widerlegen. Selbst
geübten Jägern geschicht es nicht selten, daß sie einen Tiger, welcher ganz nahe vor ihnen liegt,
vollkommen übersehen.

Der Tiger ist, wie bemerkt, der König aller Katzen Asiens; denn der Löwe, welcher an einigen
Orten dieselben Steppen mit ihm bewohnt, ist viel schwächer, als er, und kann sich keinesfalls mit
ihm messen. Wollte man dem König einem Könige gegenüberstellen, so müßte man den afrikanischen
Löwen wählen; aber auch dann wäre es noch fraglich, ob der Herrscher in Afrika seinen lieben, aber
nach Königsart großmüthig gehaßten Vetter in Asien überwinden möchte.

Die Verbreitung des Tigers ist eine auffallend große; denn er ist keineswegs, wie man ge-
wöhnlich annimmt, blos auf die heißen Länder Asiens, zumal auf Ostindien, beschränkt, sondern
zieht sich über eine Strecke des gewaltigen Erdtheils hinweg, welche unser Europa bei weitem an

Die Raubthiere. Katzen. — Tiger.
entgegen und ſtellt ſich muthig dem Menſchen als Feind gegenüber: aber als heimlicher, unvermuthet
herbeiſchleichender und deshalb um ſo gefährlicherer Feind. Man hat ſeine Grauſamkeit und ſeinen
Blutdurſt vielfach übertrieben oder wenigſtens mit ſehr grellen Farben geſchildert; allein wir dürfen
uns darüber nicht wundern; denn für Diejenigen, welche ihn ſchildern konnten, iſt er allerdings der
Jnbegriff aller Grauſamkeit. Noch heutigen Tages iſt die Zahl der Tiger, welche Jndien bewohnen,
ganz ungeheuer, und noch heutigen Tages müſſen dort Tauſende von Menſchen aufgeboten werden,
um eine Gegend, welche ſonſt der Verödung anheimfallen würde, zeitweilig von dieſer ſchlimmſten
aller Landplagen zu befreien.

Der Königstiger (Tigris regalis) iſt eine herrliche, wunderſchön gezeichnete und gefärbte Katze.
Seine Geſtalt iſt höher, ſchlanker und leichter, als die des Löwen; in der Größe aber ſteht der Tiger
keineswegs hinter jenem zurück. Ein erwachſener männlicher Tiger erreicht regelmäßig ſieben bis acht
Fuß Geſammtlänge von der Schnauze bis zur Schwanzſpitze; es ſind aber nicht ſelten einzelne ſehr
alte erlegt worden, bei welchen die in derſelben Weiſe gemeſſene Länge neun Fuß ergiebt. Die ge-
wöhnliche Körperlänge beträgt etwas über fünf Fuß, die Länge des Schwanzes 2¼ Fuß, die Höhe
am Widerriſt 2½ Fuß. Der Leib iſt etwas mehr verlängert und geſtreckter, der Kopf runder, als
der des Löwen, der Schwanz iſt lang und quaſtenlos, die Behaarung kurz und glatt und nur an den
Wangen bartmäßig verlängert. Das Weibchen iſt kleiner und hat auch einen kürzern Backenbart.
Alle Tiger aber, welche in nördlicher gelegenen Ländern wohnen, tragen ein viel dichteres und
längeres Haarkleid, als diejenigen, deren Heimat die heißen Tiefländer Jndiens ſind. Die Zeich-
nung des Thieres zeigt die ſchönſte Anordnung von Farben und einen lebhaften Gegenſatz zwiſchen
der hellen, roſtgelben Grundfarbe und den dunklen Streifen, welche über ſie hinweglaufen. Wie bei
allen Katzen iſt die Grundfärbung auf dem Rücken dunkler, an den Seiten lichter und auf der Unter-
ſeite, der Jnnenſeiten der Gliedmaßen, dem Hinterkörper, den Lippen und dem Untertheile der
Wangen weiß. Vom Rücken aus ziehen ſich nun weit auseinanderſtehende, unregelmäßige, ſchwarze
Querſtreifen in ſchiefer Richtung theils nach der Bruſt, theils nach dem Bauche herab, etwas von
vorn nach hinten. Einige dieſer Streifen ſind doppelt, der größere Theil aber einfach und dann
dunkler. Der Schwanz iſt lichter, als die Oberkörpertheile, aber auch er iſt durch dunkle Ringel aus-
gezeichnet. Die Schnurren ſind weiß, die Naſe iſt ungefleckt und die Jris gelblichbraun. Die Jungen
ſind genau ſo gezeichnet, wie die Alten, nur hat ihre Grundfärbung einen etwas hellern Ton. Auch
bei dem Tiger kommen verſchiedene Abänderungen in der Färbung vor; die Grundfarbe iſt dunkler
oder lichter und in feltenen Fällen ſogar weiß mit nebligen Seitenſtreifen.

Man ſollte meinen, daß ein ſo prachtvoll gezeichnetes Thier ſchon von weitem allen Geſchöpfen
auffallen müßte, denen es nachſtrebt. Allein dem iſt nicht ſo. Jch habe ſchon oben darauf hinge-
wieſen, wie die Geſammtfärbung aller Thiere und die der Katzen insbeſondere auf das innigſte mit
ihrem Aufenthaltsort übereinſtimmt, und brauche blos deshalb hier nochmals an die Dſchungeln
oder Rohrwälder, an die Grasdickichte und die farbenreichen Gebüſche zu erinnern, in welchen der
Tiger hauptſächlich ſeine Wohnung aufſchlägt, — um eine ſolche Meinung zu widerlegen. Selbſt
geübten Jägern geſchicht es nicht ſelten, daß ſie einen Tiger, welcher ganz nahe vor ihnen liegt,
vollkommen überſehen.

Der Tiger iſt, wie bemerkt, der König aller Katzen Aſiens; denn der Löwe, welcher an einigen
Orten dieſelben Steppen mit ihm bewohnt, iſt viel ſchwächer, als er, und kann ſich keinesfalls mit
ihm meſſen. Wollte man dem König einem Könige gegenüberſtellen, ſo müßte man den afrikaniſchen
Löwen wählen; aber auch dann wäre es noch fraglich, ob der Herrſcher in Afrika ſeinen lieben, aber
nach Königsart großmüthig gehaßten Vetter in Aſien überwinden möchte.

Die Verbreitung des Tigers iſt eine auffallend große; denn er iſt keineswegs, wie man ge-
wöhnlich annimmt, blos auf die heißen Länder Aſiens, zumal auf Oſtindien, beſchränkt, ſondern
zieht ſich über eine Strecke des gewaltigen Erdtheils hinweg, welche unſer Europa bei weitem an

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[222/0284] Die Raubthiere. Katzen. — Tiger. entgegen und ſtellt ſich muthig dem Menſchen als Feind gegenüber: aber als heimlicher, unvermuthet herbeiſchleichender und deshalb um ſo gefährlicherer Feind. Man hat ſeine Grauſamkeit und ſeinen Blutdurſt vielfach übertrieben oder wenigſtens mit ſehr grellen Farben geſchildert; allein wir dürfen uns darüber nicht wundern; denn für Diejenigen, welche ihn ſchildern konnten, iſt er allerdings der Jnbegriff aller Grauſamkeit. Noch heutigen Tages iſt die Zahl der Tiger, welche Jndien bewohnen, ganz ungeheuer, und noch heutigen Tages müſſen dort Tauſende von Menſchen aufgeboten werden, um eine Gegend, welche ſonſt der Verödung anheimfallen würde, zeitweilig von dieſer ſchlimmſten aller Landplagen zu befreien. Der Königstiger (Tigris regalis) iſt eine herrliche, wunderſchön gezeichnete und gefärbte Katze. Seine Geſtalt iſt höher, ſchlanker und leichter, als die des Löwen; in der Größe aber ſteht der Tiger keineswegs hinter jenem zurück. Ein erwachſener männlicher Tiger erreicht regelmäßig ſieben bis acht Fuß Geſammtlänge von der Schnauze bis zur Schwanzſpitze; es ſind aber nicht ſelten einzelne ſehr alte erlegt worden, bei welchen die in derſelben Weiſe gemeſſene Länge neun Fuß ergiebt. Die ge- wöhnliche Körperlänge beträgt etwas über fünf Fuß, die Länge des Schwanzes 2¼ Fuß, die Höhe am Widerriſt 2½ Fuß. Der Leib iſt etwas mehr verlängert und geſtreckter, der Kopf runder, als der des Löwen, der Schwanz iſt lang und quaſtenlos, die Behaarung kurz und glatt und nur an den Wangen bartmäßig verlängert. Das Weibchen iſt kleiner und hat auch einen kürzern Backenbart. Alle Tiger aber, welche in nördlicher gelegenen Ländern wohnen, tragen ein viel dichteres und längeres Haarkleid, als diejenigen, deren Heimat die heißen Tiefländer Jndiens ſind. Die Zeich- nung des Thieres zeigt die ſchönſte Anordnung von Farben und einen lebhaften Gegenſatz zwiſchen der hellen, roſtgelben Grundfarbe und den dunklen Streifen, welche über ſie hinweglaufen. Wie bei allen Katzen iſt die Grundfärbung auf dem Rücken dunkler, an den Seiten lichter und auf der Unter- ſeite, der Jnnenſeiten der Gliedmaßen, dem Hinterkörper, den Lippen und dem Untertheile der Wangen weiß. Vom Rücken aus ziehen ſich nun weit auseinanderſtehende, unregelmäßige, ſchwarze Querſtreifen in ſchiefer Richtung theils nach der Bruſt, theils nach dem Bauche herab, etwas von vorn nach hinten. Einige dieſer Streifen ſind doppelt, der größere Theil aber einfach und dann dunkler. Der Schwanz iſt lichter, als die Oberkörpertheile, aber auch er iſt durch dunkle Ringel aus- gezeichnet. Die Schnurren ſind weiß, die Naſe iſt ungefleckt und die Jris gelblichbraun. Die Jungen ſind genau ſo gezeichnet, wie die Alten, nur hat ihre Grundfärbung einen etwas hellern Ton. Auch bei dem Tiger kommen verſchiedene Abänderungen in der Färbung vor; die Grundfarbe iſt dunkler oder lichter und in feltenen Fällen ſogar weiß mit nebligen Seitenſtreifen. Man ſollte meinen, daß ein ſo prachtvoll gezeichnetes Thier ſchon von weitem allen Geſchöpfen auffallen müßte, denen es nachſtrebt. Allein dem iſt nicht ſo. Jch habe ſchon oben darauf hinge- wieſen, wie die Geſammtfärbung aller Thiere und die der Katzen insbeſondere auf das innigſte mit ihrem Aufenthaltsort übereinſtimmt, und brauche blos deshalb hier nochmals an die Dſchungeln oder Rohrwälder, an die Grasdickichte und die farbenreichen Gebüſche zu erinnern, in welchen der Tiger hauptſächlich ſeine Wohnung aufſchlägt, — um eine ſolche Meinung zu widerlegen. Selbſt geübten Jägern geſchicht es nicht ſelten, daß ſie einen Tiger, welcher ganz nahe vor ihnen liegt, vollkommen überſehen. Der Tiger iſt, wie bemerkt, der König aller Katzen Aſiens; denn der Löwe, welcher an einigen Orten dieſelben Steppen mit ihm bewohnt, iſt viel ſchwächer, als er, und kann ſich keinesfalls mit ihm meſſen. Wollte man dem König einem Könige gegenüberſtellen, ſo müßte man den afrikaniſchen Löwen wählen; aber auch dann wäre es noch fraglich, ob der Herrſcher in Afrika ſeinen lieben, aber nach Königsart großmüthig gehaßten Vetter in Aſien überwinden möchte. Die Verbreitung des Tigers iſt eine auffallend große; denn er iſt keineswegs, wie man ge- wöhnlich annimmt, blos auf die heißen Länder Aſiens, zumal auf Oſtindien, beſchränkt, ſondern zieht ſich über eine Strecke des gewaltigen Erdtheils hinweg, welche unſer Europa bei weitem an

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. Hildburghausen, 1864, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben01_1864/284>, abgerufen am 17.05.2024.